Nein, wir arbeiten nicht zu wenig!

Bundeskanzler Friedrich Merz hat in den vergangenen Wochen mehrfach die Arbeitsmoral der Menschen in Deutschland infrage gestellt. Doch wer genau soll eigentlich mehr arbeiten? Und für wen?
Abseits der Lebensrealität
In Interviews und Reden beklagte er, viele Menschen sähen Arbeit nur noch als lästige Unterbrechung der Freizeit. Er fordere mehr Einsatz – zum Erhalt „unseres Wohlstands“. Im Bundestag habe er zuletzt gefragt, warum 45 Millionen Erwerbstätige heute nicht mehr Stunden arbeiteten als 38 Millionen vor 30 Jahren. Dabei habe er von einer „gewaltigen Kraftanstrengung“ gesprochen, die notwendig sei, um den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands zu sichern, und habe wörtlich gesagt, vielleicht solle man das Wort Feierabend aus dem deutschen Wortschatz streichen.
Vielfach sind die Aussagen des Kanzlers bereits auf Kritik gestoßen. Sie wirken nicht nur realitätsfern, sondern sind ein gezieltes Manöver, um die öffentliche Debatte in eine bestimmte Richtung zu lenken. Die Diskussion über Arbeitszeitverkürzung, die Vier-Tage-Woche und eine ausgewogene Work-Life-Balance soll umgekehrt werden – zugunsten der Reichen.
Auch CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann verteidigte die Aussagen von Merz und kritisierte eine vermeintliche „Life-Life-Balance“-Mentalität. Er betonte, dass der Wohlstand auf Produktivität basiere. Laut Koalitionsvertrag plant die CDU, den Acht-Stunden-Tag durch eine wöchentliche Höchstarbeitszeit zu ersetzen. Das stellt einen erheblichen Eingriff in das bestehende Arbeitsrecht dar – dem entschieden entgegengetreten werden muss.
Die CDU propagiert die Vorstellung, dass Deutschlands Wohlstand durch eine mangelnde Arbeitsmoral gefährdet sei – und nicht etwa durch strukturelle Probleme des Kapitalismus wie Profitorientierung, Krisenanfälligkeit oder technologisch bedingte Überakkumulation. Anstatt offen zu benennen, welche Faktoren unsere Existenz tatsächlich bedrohen, wird die Verantwortung umgelenkt und individualisiert – hin zur angeblich fehlenden Moral einer neuen Generation von Lohnabhängigen.
Dabei ignoriert Merz die Realität vieler Beschäftigter: Pflegekräfte, Lehrkräfte, Handwerker:innen oder Verkäufer:innen arbeiten längst am Limit – viele sogar deutlich über ihre vertraglich vereinbarte Arbeitszeit hinaus und unbezahlt. Studien zufolge leisten Millionen Deutsche unbezahlte Überstunden – das heißt: Arbeit, für die sie nie entlohnt werden. Viele Vollzeitbeschäftigte verdienen dennoch nicht genug zum Leben und müssen staatliche Unterstützung beantragen. Das nennt man „arbeitende Armut“.
Inzwischen sah sich Merz nach dem ersten öffentlichen Aufschrei zum Zurückrudern gezwungen. Er relativierte einige seiner Aussagen und räumte ein, dass insbesondere jüngere Menschen sehr viel arbeiten würden. Die Pläne zur Einführung einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit sind jedoch weiterhin Bestandteil des Koalitionsvertrags und wurden bislang nicht gestrichen.
Wir profitieren nicht von mehr Arbeit
Die CDU nutzt ihre Leistungsdebatte, um die Staatsbürger:innen zu disziplinieren. Sie offenbart dabei einen tief verwurzelten Arbeitsfetischismus: Arbeit wird nicht als Mittel zur Bedürfnisbefriedigung verstanden, sondern als moralische Pflicht aller eines jeden Bürgers:innen. Doch die wenigsten arbeiten heute aus einem schöpferischen Impuls. In der Regel arbeiten wir, um die Profite von Unternehmern, Manager:innen und Aktionär:innen zu steigern – nicht zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit. Deren Kontozuwachs ist jener Wohlstand, der laut Merz angeblich in Gefahr ist.
Im Kapitalismus wird der Gewinn aus der Arbeit der Beschäftigten nicht gerecht verteilt. Wenn ein Mensch acht Stunden am Tag arbeitet, schafft er:sie einen Wert. Ein Teil dieses Werts wird als Lohn ausbezahlt, der Rest landet als Gewinn beim Unternehmen oder den Aktionär:innen. Dieser Unterschied heißt in der Wirtschaftstheorie „Mehrwert“. Das ist kein Zufall, sondern Teil eines Systems, das genau so funktioniert. Wirtschaftlicher Erfolg entsteht auf dem Rücken derjenigen, die arbeiten – nicht derjenigen, die die Unternehmen besitzen. Und je länger oder intensiver gearbeitet wird, desto größer ist dieser Gewinn. Es geht in Wahrheit um eine weitere Erhöhung des Mehrwerts zugunsten der Bosse. Wenn Merz also fordert, „mehr zu arbeiten“, meint er im Kern: Noch mehr Wert schaffen – für Reiche.
CDU will Druck erhöhen
Die Anhebung des Rentenalters oder steuerliche Anreize für Mehrarbeit dienen dazu, möglichst lange möglichst viele produktive Arbeitsstunden aus den Menschen herauszuholen – bei gleichzeitig niedrig gehaltenen Lohnstückkosten. Auch der Vorschlag, Bürgergeldempfänger:innen nach mehrfacher Jobverweigerung die Leistungen vollständig zu streichen, ist kein Kampf gegen „Missbrauch“, sondern ein Mittel, den Druck auf die gesamte Arbeiter:innenklasse zu erhöhen.
Diese Strategie – Sanktionierung, Drohung, Kontrolle – ist typisch für kapitalistische Krisenphasen, in denen die Kapitalverwertung ins Stocken gerät. Den letzten Durchbruch mit solchen Angriffen erzielte die rot-grüne Bundesregierung unter Schröder mit ihrer Agenda 2010. In ihrer Sprache wird daraus ein „Leistungsanreiz“ – tatsächlich bedeutet es jedoch die Durchsetzung von Arbeitszwang unter verschärften Bedingungen.
Die „Exportnation Deutschland“ konnte nur auf der Grundlage verschärfter Lebensbedingungen für die Arbeiter:innen im eigenen Land aufgebaut werden. Der nationale Stolz auf den Exportüberschuss verschleiert, dass dieser auf niedrigen Löhnen, einer stagnierenden Binnenwirtschaft und aggressiver globaler Konkurrenz beruht. Dass Deutschland „wettbewerbsfähig“ bleiben müsse, bedeutet nichts anderes, als dass der Preis der Ware Arbeitskraft weiter gesenkt werden soll, um im internationalen Verwertungskampf zu bestehen.
Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.
Merz selbst ist wohlhabend: Er war unter anderem für die Vermögensverwaltung BlackRock tätig. Wenn er mehr Leistung fordert, dann nicht, um Pflegekräfte zu entlasten oder Erzieher:innen besser zu bezahlen – sondern weil es aus Sicht der Unternehmer:innen günstiger ist, wenn mehr Menschen mehr arbeiten, ohne dass die Löhne entsprechend steigen. Hier spricht nicht die Stimme des Allgemeinwohls, sondern ein Interessenvertreter der Besitzenden.
Der Vorwurf, Deutschland arbeite zu wenig, ist eine Verdrehung der Tatsachen. Millionen Menschen leisten tagtäglich Enormes – körperlich, psychisch und zeitlich. Der eigentliche Skandal ist nicht eine angeblich mangelnde Arbeitsmoral, sondern ein System, in dem die Früchte dieser Arbeit nicht gerecht verteilt werden.
Wir können weniger arbeiten – und besser leben
Es ist Zeit, die Debatte umzudrehen. Statt zu fragen, warum wir nicht mehr arbeiten sollten, sollten wir fragen: Warum werden so wenige von so viel Arbeit so reich?
Leistung, Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit – auch wenn viele linksliberale und sozialdemokratische Stimmen wie Ex-Kanzler Scholz oder Ricarda Lang (Bündnis 90/Die Grünen) Merz zu Recht widersprechen, übernehmen sie oft unbewusst dessen Grundannahmen. Auch sie betrachten Arbeitskraft als Ressource, die effizienter gemanagt werden müsse – und nicht als Menschen, die unter den Bedingungen von Lohnarbeit entfremdet leben und arbeiten.
Wir brauchen eigene Argumente, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Wir kämpfen für eine andere Gesellschaft, in der die Maxime lautet: ‚Jeder nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Möglichkeiten.‘ Wenn das unser Ziel ist, müssen wir konsequent mit den Mythen und Erzählungen des Kapitalismus brechen.
Nicht moralisieren, sondern kämpfen!
Die Antwort auf die Offensive von Merz & Co. kann nicht allein moralische Empörung sein. Die Gewerkschaften müssen sich dem geplanten Angriff auf den Acht-Stunden-Tag nicht nur entschlossen entgegenstellen, sondern in die Gegenoffensive gehen. Doch auf die sozialpartnerschaftlich geführten Apparate allein können wir uns nicht verlassen – zu oft haben sie in der Vergangenheit Arbeitszeitverlängerungen, Flexibilisierungen und Tarifverschlechterungen mitgetragen oder saßen bei der Aushandlung unserer verschlechterten Lebensbedingungen mit am Tisch.
Wir müssen Streikkomitees aufbauen, die unabhängig von der Bürokratie agieren und in demokratischen Versammlungen alle Beschäftigten einbeziehen. Ein bundesweiter Aktionstag gegen die Höchstarbeitszeit könnte ein erster Schritt sein – verbunden mit der Forderung nach einer radikalen Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich.
Die Arbeitszeitfrage ist eine Klassenfrage – und nur die organisierte Arbeiter:innenklasse kann mit ihren eigenen Kampfmethoden eine Antwort darauf geben und den Widerstand aufbauen.