Mit Polizeigewalt zur Rettung der Staatsräson?
Leitartikel: Merz erklärt Palästina-Proteste nach dem Inkrafttreten der Waffenruhe für überflüssig und leitet eine neue Welle der Polizeigewalt ein. Wir müssen jetzt erst recht für die Befreiung Palästinas kämpfen und Verteidigung gegen die Repression organisieren.
Nach der Unterzeichnung des Abkommens über eine Waffenruhe in Gaza gebe es „keinen Grund mehr, jetzt für Palästinenser in Deutschland zu demonstrieren“, behauptete Friedrich Merz letzte Woche. Neben dem abgrundtiefen Rassismus gegen Palästinenser:innen drückt seine Aussage vor allem die Hoffnung aus, „dass dann auch ein bisschen innenpolitisch wieder Ruhe einkehrt“.
Die Empörung über den Völkermord in Gaza und die Ablehnung der fortlaufenden deutschen Israel-Unterstützung hatte die Bundesregierung in den letzten Monaten zunehmend in Bedrängnis gebracht. In Europa strömten in den letzten Wochen Millionen Menschen auf die Straßen, um ihre Solidarität mit dem palästinensischen Volk auszudrücken. In Deutschland kam es zwar nicht zu Streiks und groß angelegten Blockaden wie in Italien, doch die 100.000 Demonstrant:innen bei „Zusammen für Gaza“ zeigten klar, dass sie die Haltung Deutschlands nicht länger akzeptieren. Das durch eigene imperialistische Interessen und tiefe historische Verbindungen bedingte Festhalten an der Staatsräson hat die Isolierung Deutschlands auf der Weltbühne beschleunigt. Immer deutlicher sahen besonders junge Menschen, dass die Vorstellung, die BRD mache eine „humanitäre“ Außenpolitik, eine Lüge ist. Insbesondere in Zeiten, wo die Regierung Konsens für ihr Projekt, die Bundeswehr zur stärksten konventionellen Armee Europas hochzurüsten, schaffen will, ein gewaltiger Störfaktor.
Im gestern feierlich in Anwesenheit von Trump, Merz und über 20 weiteren Staatschefs im ägyptischen Sharm El-Sheikh unterzeichneten Abkommen dürften die europäischen Staaten einen für sie günstigen Ausweg sehen. Ihre Hoffnung besteht darin, dass das Abkommen ihnen ermöglicht, an der Unterstützung Israels und der Kolonisierung Palästinas festzuhalten und sich gleichzeitig als Friedensstifter darzustellen.
Was steht hinter dem Abkommen?
Natürlich teilen wir die Erleichterung der Menschen in Gaza, die in den letzten zwei Jahren durch die Hölle gegangen sind, darüber, dass die täglichen Bombardierungen und Hinrichtungen mit dem Eintreten der Waffenruhe nun, zumindest für eine Zeit, aufhören könnten, dass die Hungersnot durch die wieder zugelassenen UN-Lieferungen abgemildert werden könnte. Auch die Freilassung von fast 2000 palästinensischen Gefangenen ist Grund zur Freude. Die Auslöschung von wahrscheinlich hunderttausenden Leben, die Zerstörung nahezu aller Wohnungen und Infrastruktur kann eine Waffenruhe aber nicht wettmachen. Und aktuell wird bereits von erneuten Ermordungen durch Israel und der weiteren Blockade humanitärer Hilfsgüter berichtet.
Doch der Zynismus von Merz‘ Aussage wird vor allem angesichts der Zukunft, die der 20-Punkte-Plan von Trump für Palästina vorsieht, deutlich. Weit entfernt davon, die jahrzehntelange koloniale Unterdrückung des palästinensischen Volkes zu beenden, zielt dieser vielmehr darauf ab, diesen Zustand zu verfestigen und die Bestrebungen zur Selbstbestimmung zu ersticken.
In der nächsten Phase des Abkommens soll Gaza unter die Kontrolle einer Kolonialregierung gestellt werden, unter der Leitung eines „Friedensrates“ mit Trump selbst und dem ehemaligen britischen Premier Tony Blair – einem notorischen Kriegstreiber – an der Spitze und mit Beteiligung von Staaten der Region, die mit dem Imperialismus verbündet sind. Palästinensische Widerstandsgruppen sollen laut dem Plan entwaffnet werden – es geht darum, ein Szenario herzustellen, in dem die Bevölkerung Gazas völlig einer ausländischen und eng mit Israel verbundenen Besatzungsmacht unterworfen wird. 200 US-Soldat:innen wurden bereits stationiert, auch türkische, ägyptische und katarische Truppen sollen entsendet werden.
Jenseits des völlig reaktionären Charakters des vermeintlichen „Friedensplans“ ist auch höchst fraglich, ob das Abkommen halten wird. Während die Netanjahu-Regierung unter dem Druck aus den USA der Waffenruhe zustimmen musste, ist der Drang zur vollständigen Vertreibung oder Vernichtung der palästinensischen Bevölkerung und Besiedlung Gazas sowie zur Annexion des gesamten Westjordanlands in Israel – gerade in Netanjahus Koalition – weiterhin groß. Auch beinhaltet der Trump-Plan keinen Rückzug der israelischen Besatzungsarmee; in der ersten Phase soll die IDF über die Hälfte des Gebiets besetzt halten und auch in etwaigen weiteren Phasen nicht vollständig abgezogen werden.
Die Möglichkeit, dass Israel in einer für sich günstigeren Situation das Abkommen sabotieren und die Völkermordoperation wieder aufnehmen wird, bleibt also hoch. Heute Morgen wurde die Waffenruhe bereits gebrochen, als IDF-Soldat:innen mindestens sechs Palästinenser:innen in Gaza-Stadt erschossen, während Israel gleichzeitig den Süden Libanons bombardiert.
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Gründe, jetzt erst recht weiter für Palästina zu demonstrieren, gibt es also mehr als genug. Während das Abkommen kein Ende der kolonialen Unterdrückung bedeutet, sehen wir auch Zeichen, dass die internationale Solidaritätsbewegung, die Millionen junger Menschen zum politischen Leben erweckte, noch lange nicht an ihr Ende gekommen ist. Am Wochenende gingen in London zehntausende Menschen auf die Straße, um für die Befreiung Palästinas und gegen das skandalöse Verbot von Palestine Action zu protestieren. Im spanischen Staat wird morgen ein landesweiter Streiktag in Solidarität mit dem palästinensischen Volk stattfinden.
Auch in Deutschland war die United4Gaza am Wochenende mit zehntausenden Teilnehmer:innen ein Zeichen dafür, dass die Solidarität nicht versiegt ist. Entgegen Merz‘ Hoffnung, dass nun wieder „Ruhe einkehren“ soll, geht es jetzt darum, die Mobilisierungen auszuweiten, in den Betrieben und Ausbildungsstätten zu verankern und auch hier Streiks für Palästina vorzubereiten. Mit einer brüchigen Waffenruhe können wir uns nicht zufriedengeben: Wir müssen den vollständigen Abbruch aller militärischen, wirtschaftlichen, diplomatischen und akademischen Beziehungen mit Israel durchsetzen und den bedingungslosen Rückzug der IDF und ausländischer Truppen, ein Ende der Apartheid und der Blockade fordern.
Repression die Stirn bieten
Besondere Bedeutung kommt aber auch dem Kampf gegen die Repression hierzulande bei. Merz‘ Aussage ist eine Drohung an alle, die jetzt noch „wagen“, für Palästina auf die Straße zu gehen. Er erteilt der Polizei einen rhetorischen Freifahrtschein, Gewalt und Schikanen gegen Demonstrant:innen zu eskalieren. Eine erste Warnung, dass die Repression nun noch weiter anziehen wird, war die Demonstration „Stoppt den Völkermord“ am 7. Oktober am Berliner Alexanderplatz. Nachdem die Polizei diese kurzfristig verboten hatte, kesselte sie Teilnehmer:innen ein, attackierte sie mit Pfefferspray und brutalen Schlägen und nahm fast 200 Menschen fest.
Wenn Merz davon spricht, dass er Ruhe auf den Straßen haben will, geht es auch um mehr als Palästina. Der Kanzler hat Angst vor der Wut von unten, vor allem vor einem Eintritt der Arbeiter:innenbewegung in den Kampf. Die Regierung will ihren Spielraum vergrößern, um geplante Angriffe durchzusetzen. Auf die Abschaffung des Bürgergelds könnten die Aushöhlung des Acht-Stunden-Tags und des Rentensystems folgen. Um die massive Hochrüstung zu finanzieren, wird die Regierung Kürzungen im Sozialbereich durchführen. Die Wehrpflicht soll kommen, obwohl eine deutliche Mehrheit der 18- bis 29-Jährigen das ablehnt. An der Palästinabewegung, die sich heute am entschiedensten gegen die Regierung stellt, soll ein Exempel statuiert werden; sie soll isoliert werden, um Widerstand gegen die Regierungspolitik insgesamt niederzuhalten.
Dass die Polizeigewalt nicht nur Proteste gegen den Genozid trifft, sondern vermehrt auch Proteste gegen die Kriegstreiberei, wie bei der Rheinmetall-Entwaffnen-Demo in Köln und zuletzt der „Geld für den Kiez statt Waffen für den Krieg“-Demo in Berlin-Wedding, zeigt deutlich, was Merz’ Aussagen in der Praxis bedeuten: Schläge ins Gesicht gegen linke Aktivist:innen und eine neue Brutalität der Repression gegen Demonstrationen. Bei der „United4Gaza“-Demo vergangenen Samstag wurde ein Vater, der mit seinem dreijährigen Kind auf dem Arm einfach nur die Straße überqueren wollte, von der Polizei verprügelt. Diese Repression soll Angst machen, einschüchtern und klar zeigen, dass Widerstand gegen die reaktionäre Regierungspolitik nicht geduldet wird. Genau deshalb ist eine entschlossene Verteidigung der Palästinabewegung und aller Proteste gegen die Aufrüstung und Kriegsmaschinerie notwendig.
Selbst Politiker:innen der Linkspartei wurden dieses Wochenende von der Polizei attackiert. Der niedersächsische Bundestagsabgeordnete Cem Ince wurde auf der Demo gegen Rheinmetall im Wedding, die er als parlamentarischer Beobachter begleitete, gewaltsam aus der Menge gezogen und festgenommen. Auf der Demo am Alexanderplatz einige Tage zuvor schlug ein Polizist der Abgeordneten Lea Reisner ins Gesicht.
Während Söder die Aufhebung der Beschränkungen von Waffenlieferungen an Israel fordert, braucht es jetzt eine entschlossene antimilitaristische und antiimperialistische Linke. Das bedeutet insbesondere, dass die Linkspartei an vorderster Front in der Verteidigung aller von Repression Betroffener stehen und jetzt zu Mobilisierungen aufrufen muss. Denn ein Frieden auf Ruinen, der von den Kolonisierungsplänen gekrönt wird, ist kein Frieden, auch wenn Ines Schwerdtner sich auf Twitter im Großen und Ganzen zustimmend zum Trump-Plan äußerte.
Die Großdemo „Zusammen4Gaza“ kann nur ein erster Schritt gewesen sein, der jetzt unbedingt ausgebaut werden muss. Die berechtigte Wut auf den Straßen gegen die israelische Besatzungspolitik und die deutsche Unterstützung des Genozids muss jetzt gebündelt werden und sich in eine starke Bewegung gegen den Kriegskurs der deutschen Regierung ausweiten.
Palästinasolidarische Mitglieder der Linken müssen dafür kämpfen, dass ihre Partei Teil dieser Bewegung ist – auch entgegen derjenigen Teile der Führung, die das Thema nun wieder unter den Tisch fallen lassen wollen. Es braucht Proteste und Kampagnen gegen die Repression und für die Verteidigung Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Hier kann die Linkspartei einen entscheidenden Unterschied machen, wenn ihre Abgeordneten, die sich entschlossen für Palästina einsetzen, wie Cansin Köktürk, Ferat Koçak oder Özlem Demirel, und alle, die selbst von Polizeigewalt betroffen sind, diese Initiativen voranbringen und gemeinsam mit den zehntausenden Aktiven an der Basis der Linkspartei und ihrer Jugendstrukturen die Verteidigung gegen die Repression organisieren. Es braucht Versammlungen in den Schulen, Unis und Betrieben, wo diskutiert wird, wie die koloniale Unterdrückung Palästinas und die Repression gestoppt werden kann.