Kann die Befreiungspädagogik uns befreien?

Viele progressive Lehrer:innen versuchen, die Befreiungspädagogik in ihrem Unterricht zu praktizieren. Damit wollen sie ihren Schüler:innen helfen, ein Bewusstsein für Unterdrückung und Ungerechtigkeit zu erlangen. Ist es wirklich möglich, in der derzeitigen Situation Befreiungspädagogik erfolgreich anzuwenden?
Vom dem argentinischen Lehrer, Gewerkschafter und Aktivisten der Sozialistischen Arbeiterpartei Argentiniens (PTS), Hernán Cortiñas, verfasst. In dem vorliegenden Artikel diskutiert er mit der Befreiungspädagogik nach Paolo Freire. Der folgende Artikel erschien ursprünglich in La Izquierda Diario auf Spanisch.
Schulen sind zweifelsfrei ein Spiegel der gesamten Gesellschaft. Die Krisen und das Leid, aber auch die Errungenschaften der Außenwelt, machen auch vor den Türen der Klassenzimmer nicht Halt. Viele unserer Schüler:innen sind Kinder von arbeitslosen Arbeiter:innen, die nicht wissen, wie sie ihre nächste Miete bezahlen sollen. Unsere Schüler:innen brechen die Schule ab, um arbeiten gehen zu können oder kommen im Halbschlaf in den Unterricht, da sie in der Nacht zuvor ihre jüngeren Geschwister versorgen und betreuen mussten.
Immer mehr Schüler:innen auf der ganzen Welt sagen, dass es ihnen reicht, und organisieren sich, um für ihre Rechte zu kämpfen.
Die herrschende Klasse möchte der Bildung eine unehrliche “Neutralität” auferlegen. Doch diese vermeintlich “vorurteilsfreie” Pädagogik gerät an ihre Grenzen, wenn sie mit der täglichen Realität in überfüllten staatlichen Schulen mit maroder Infrastruktur konfrontiert wird. Die baufälligen Gebäude beherbergen schlecht bezahlte Lehrer:innen die gezwungen sind Politiker:innen dabei zuzusehen wie sie nur über Bildung reden, wenn es ihrem eigenen Ansehen hilft. Bereits ein kurzer Blick in die jüngere Geschichte zeigt, dass eine Regierung nach der anderen “notwendige” Kürzungen des Bildungshaushalts verlangt hat, um für die Auswirkungen der kapitalistischen Finanzkrise zu bezahlen.
Es ist diese tagtägliche Realität, die Lehrer:innen zwingt, die gesellschaftlichen Zustände zu hinterfragen. Diese Realität zeigt uns, dass wir dem Elend außerhalb unserer Klassenzimmer nicht gleichgültig gegenüberstehen können. Sie spornt uns an, eine aktive Rolle in der Veränderung der Gesellschaft zu übernehmen.
Also fragen wir uns: Ist es möglich, unsere Rolle als Pädagog:innen zu nutzen, um die Gesellschaft zu verbessern? Können wir gleichzeitig ausgebeutete Arbeiter:innen sein und solch eine große Verantwortung tragen?
Alle von uns Lehrkräften haben eine mentale Liste von Erfolgsgeschichten und einprägsamen Momenten, die uns mit Stolz erfüllen. Gleichzeitig sind unsere Arbeitsbedingungen herausfordernd – geringes Einkommen, lange Arbeitszeiten, zu große Klassen, und ungenügend ausgestattete Schulen führen dazu, dass wir unsere wichtige Arbeit manchmal als Belastung und nicht als Bereicherung erleben. Genau wie unsere Schüler:innen haben auch wir Momente des Zweifels: “Was macht das alles für einen Sinn?” und “Macht das, was ich tue, in der Welt einen Unterschied?”. Wir stecken sehr viel Energie und Aufwand in unsere tägliche Arbeit, und werden dennoch mit tausend verschiedenen Problemen konfrontiert und durch sie überfordert: Kinder und Jugendliche die zu Hause nicht genug Essen oder Schlaf bekommen, die keine Stifte und Schulbücher gekauft bekommen, die Gewalt erfahren, die die Schule schwänzen um arbeiten zu gehen oder auf jüngere Geschwister aufzupassen, um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Lehrkräfte als Befreier:innen ihrer Schüler:innen zu ernennen, wird durch ihre harten Arbeitsbedingungen erschwert. Viele Lehrer:innen [in Argentinien, A.d.Ü.] arbeiten gleichzeitig an mehreren Schulen, um über die Runden zu kommen. Diese Ausbeutung ist kombiniert mit einem Gefühl der Entfremdung. Lehrer:innen haben so gut wie kein Mitspracherecht bezüglich der Struktur des Bildungssystems. Sie sollen sich nicht einmischen, und sich nur auf ihren Unterricht fokussieren. Wir müssen Lehrpläne umsetzen, die nicht einmal von Lehrkräften entworfen wurden und Material aus Lehrbüchern verwenden von Verlagen, denen der Profit am wichtigsten ist. Der staatlich verordnete Lehrplan soll niemanden befreien, weder die Lehrer:innen, noch die Schüler:innen. Die Lehrkräfte sollen nicht darüber nachdenken, was für ihre Schüler:innen am besten wäre, und schon gar nicht über Verbesserungsmöglichkeiten für das Schulsystem.
Es ist wichtig zu erwähnen, dass unser Schulsystem darauf ausgelegt ist, Schüler:innen unterschiedlich zu unterrichten, wie bereits Bourdieu erkannte. Reiche Menschen und arme Menschen gehen oft nicht auf dieselben Schulen, dieses System trägt zur Rechtfertigung der ökonomischen und sozialen Ungleichheiten bei.
Stärken wir Pädagog:innen zwangsläufig die herrschende Ordnung?
Überhaupt nicht, denn Bewegungen, in denen sich Schüler:innen und Lehrer:innen organisieren, haben eine große politische Macht. Sie haben das Potential, die Gesellschaft zum Besseren zu verändern, wenn sie sich aktiv am Klassenkampf beteiligen. Diese Bewegungen haben die Aufgabe, staatliche Schulen vor Attacken der Regierung zu verteidigen, und auch immer mehr vor privaten Firmen.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erhielt die Arbeiter:innenklasse den Zugang zum staatlichen Bildungssystem. Der Umstand, dass wir heutzutage nicht nur Privatschulen haben wo der Zugang vom Geldbeutel abhängt ist ein riesiger Sieg der Arbeiter:innenklasse. Diesen Sieg müssen wir mit aller Kraft gegen Haushaltskürzungen verteidigen, und gegen Kirchen oder Firmen, die sich in die Bildung einmischen wollen. Wir müssen gegen Reformen der Lehrpläne kämpfen, die die Pädagogik den Interessen der großen Unternehmen anpassen wollen.
Dennoch, der Ausbau des staatlichen Bildungssystems proletarisierte die Lehrkräfte, die täglich an den staatlichen Schulen unterrichteten. Vor der Einführung der staatlichen Schulen waren das gesellschaftliche Ansehen und das durchschnittliche Gehalt der Lehrer:innen, die an Privatschulen “die Elite” unterrichteten, viel höher als das der unterbezahlten und zu wenig wertgeschätzten Lehrer:innen der heutigen Zeit.
Dieser Widerspruch ist es, der die Möglichkeit öffnet, im Unterricht das kapitalistische System in Frage zu stellen, im realen Austausch mit der Lebenswelt der Schüler:innen.
Können wir Befreiungspädagogik im Kapitalismus erfolgreich anwenden?
Oft wird behauptet, dass das Bildungssystem dafür verantwortlich sei, soziale Veränderungen einzuleiten, fast als wäre es unabhängig vom Rest der Gesellschaft. Auch wird angenommen, dass Verbesserungen in der Bildung automatisch gesellschaftlichen Fortschritt herbeiführen würden. Viele Leser:innen von Paolo Freire argumentieren, dass wir jungen Menschen nur helfen müssten, Bewusstsein über die Situation der Welt zu erlangen, und somit die Gesellschaft verbessern oder gar revolutionieren könnten.
Marx, sowie viele weitere Kommunist:innen, haben ausführliche Texte über die Beziehungen zwischen Ideen, dem Staat, und der Revolution geschrieben. Marx schreibt in Die deutsche Ideologie, “daß alle Kämpfe innerhalb des Staats […] nichts als die illusorischen Formen sind, in denen die wirklichen Kämpfe der verschiedenen Klassen untereinander geführt werden”. Er schreibt später, “daß alle Formen und Produkte des Bewußtseins nicht durch geistige Kritik, durch Auflösung ins ‘Selbstbewußtsein’ […], sondern nur durch den praktischen Umsturz der realen gesellschaftlichen Verhältnisse, aus denen diese idealistischen Flausen hervorgegangen sind, aufgelöst werden können”. Wir können die Gesellschaft nicht verändern, indem wir unsere Vorstellungen verändern. Wir müssen hingegen die aktuelle Gesellschaftsordnung stürzen, sowie den Staat und die bestehenden sozialen Verhältnisse.
Dieses Thema wurde auch von sowjetischen Pädagog:innen wie Lev Vygotsky aufgegriffen, der sagt: „Bildung hatte schon immer einen Klassencharakter, auch wenn das viele nicht wahrhaben wollen. Die Freiheit und Unabhängigkeit der kleinen, künstlichen Welt der Erziehung gegenüber dem größeren sozialen Kontext ist daher in Wirklichkeit nur eine sehr relative, bedingte, konventionelle Freiheit und Unabhängigkeit innerhalb enger Grenzen und Schranken.“ Selbst wenn Lehrkräfte Befreiungspädagogik praktizieren möchten, werden sie durch die Verwaltung, die standardisierten Prüfungen, Gesetze, Standards und Regeln dabei eingeschränkt.
Selbst Paulo Freire, der durch die Beschäftigung mit der Befreiungspädagogik einige Berühmtheit erlangte, musste die Grenzen des Bildungssystems anerkennen: „Ich kann mich nicht als progressiv bezeichnen, wenn ich die Schule als etwas neutrales betrachte, mit keinen oder limitierten Beziehungen zum Klassenkampf. Ich kann nicht die Grenzen meiner politischen und pädagogischen Handlungen erkennen wenn ich nicht weiß, für wen ich unterrichte. Die Frage, wer von meinem Unterricht profitiert, bringt mich dazu, über Klasse nachzudenken. Ich sehe, gegen wen ich unterrichte und zwangsläufig, warum ich unterrichte. Denn zu lehren ist, einen Traum zu vermitteln: In was für einer Art von Gesellschaft möchte ich mich einbringen?“
Peter McLaren, der Gründer der kritischen Pädagogik, forschte zu genau diesem Thema, und bestätigte, dass die zeitgenössischen Lesarten von Freire „seinen Fokus auf die Veränderung von Unterrichtsmethoden überbewertet haben und sein Potential für revolutionäre Veränderungen außerhalb des Klassenzimmers und in der gesamten Gesellschaft heruntergespielt haben. Diese Debatten ignorieren bewusst den hauptsächlichen Widerspruch der Geschichte: Den Widerspruch zwischen der Arbeit und dem Kapital.“
Wir schließen daraus, dass das Bildungssystem nicht als separat vom Staat betrachtet werden kann, welcher spezifische Klasseninteressen hat. Daraus folgt, dass das Bildungssystem ebenfalls nicht getrennt vom Klassenkampf zu betrachten ist.
Obwohl Schulen also Orte des politischen und ideologischen Kampfes sind, reicht die Bildung alleine nicht für eine revolutionäre Transformation der Gesellschaft aus. Deshalb muss jede Art der Pädagogik, egal wie emanzipatorisch ihre Theorien sind, eng mit einer politischen Strategie verknüpft werden, wie wir das derzeitige System, welches von Ausbeutung und Elend geprägt ist, bezwingen und überwinden können. Freires Methode beinhaltet keine Strategie der Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse und wird zur Versöhnung der Klassen eingesetzt, nach der Logik, dass man realistisch einschätzen müsse, was an Veränderungen innerhalb unseres ausbeuterischen und unterdrückerischen Systems möglich sei.
Für alle, die noch Zweifel haben, möchten wir die dritte Feuerbachthese zitieren. In dieser sagt Marx: „Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß daher die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – sondieren
Das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden.“
Wir müssen diese revolutionäre Praxis aufbauen. Entgegen aller Illusionen, dass wir die Gesellschaft ändern können, allein indem wir ein paar Schüler:innen progressive Ideen beibringen.
Als revolutionäre Arbeiter:innen im Erziehungs- und Bildungssektor kämpfen wir für eine Bildung im Dienste der Arbeiter:innen und der Armen. Wir wissen, dass dies nur in einer Gesellschaft passieren kann, die von den Arbeiter:innen kontrolliert wird, und in der die Produktionsmittel in den Händen derer sind, die den gesamten gesellschaftlichen Reichtum produzieren.
Wir möchten die Welt fundamental ändern, diejenigen enteignen die momentan uns enteignen, und die Ketten des Kapitals sprengen. Dieser Kampf kann nur durch die Selbstorganisation und das steigende Klassenbewusstsein der Arbeiter:innen erfolgreich sein. Die Arbeiter:innen müssen in Zusammenarbeit mit den unterdrückten Sektoren ihre eigene Party aufbauen. Aus diesem Grund ist der Kampf für eine Transformation des Bildungssystems identisch mit dem Kampf der Arbeiter:innenklasse um ihre Emanzipation. Wir wollen eine Gesellschaft, wo es eine ganz andere Art der Schulen geben wird. Wir kämpfen für eine andere Art der Schulen, auf dem Weg dahin, diese Gesellschaft zu gewinnen.