Israel und Iran: Kein Zurück für den Kolonialstaat

Indem er die strategischen Säulen des iranischen Regimes angreift, setzt Netanjahu an der Spitze einer radikalisierten Regierung auf einen vollständigen Sieg. Dieses ehrgeizige Ziel beruht jedoch auf einem gefährlichen Glücksspiel, das die Existenz des Staates Israel gefährden könnte.
Die Konfrontation zwischen Israel und dem Iran ist nicht mehr nur ein indirekter Konflikt. Seit Freitag, dem 13. Juni 2025, hat sich das, was fast ein halbes Jahrhundert lang ein Krieg zwischen Geheimdiensten war, bestehend aus Sabotageakten und Drohungen, zu einer direkten Konfrontation entwickelt, die das gesamte geopolitische Gleichgewicht im Nahen und Mittleren Osten zu sprengen droht. Der letzte Schritt in diese Richtung ist die direkte Offensive Israels gegen die strategischen Säulen des iranischen Regimes. Für Tel Aviv geht es nicht mehr darum, das iranische Regime abzuschrecken oder einzudämmen, sondern es zu stürzen. Netanjahu, an der Spitze einer radikalisierten Regierung, setzt auf einen totalen Sieg: den Sturz des Staates der „Pasdaran“, der Revolutionsgarden, dem harten Kern der iranischen Macht. Hinter diesem maximalen Anspruch verbirgt sich jedoch ein äußerst riskantes Unterfangen: Israel könnte Grenzen überschreiten, die seine eigene Existenz gefährden.
Ziel: Das Herz des Iran treffen
Die israelische Offensive kombinierte massive Angriffe mit einer ausgeklügelten Infiltration durch den Geheimdienst. Nukleare Anlagen, Raketenbasen, wissenschaftliche Labore, Kommandozentralen: Alles wird Ziel des israelischen Militärs. Doch während die militärische Effizienz unbestritten ist, ist die politische Strategie weit weniger klar.
Die Frage ist nicht, ob Israel den Iran treffen kann. Das hat es bereits bewiesen. Die Frage ist, zu welchem strategischen Preis und mit welchem politischen Horizont. Denn wenn die Operation das iranische Regime nicht stürzen kann, wird sie nur dessen Widerstandsdiskurs festigen und eine asymmetrische, langwierige und unvorhersehbare Reaktion schüren.
Ohne Verbündete, ohne Ausweg
Israel hat seine nationale Verteidigung auf Abschreckung, technologischer Überlegenheit und der bedingungslosen Unterstützung der USA aufgebaut. Doch heute ist dieses Dreieck zerbrochen. In Washington versucht Trump, aus den militärischen Erfolgen Israels politischen Gewinn zu schlagen, ohne sich in einen offenen Krieg zu verwickeln. Wenn sich der Konflikt jedoch verschärft, wird die Versuchung, die USA auf das Schlachtfeld zu ziehen, unausweichlich werden.
Denn wenn wir kurz vor einem totalen Krieg zwischen Israel und dem Iran stehen, werden die USA nicht die Möglichkeit haben, sich aus dem Konflikt herauszuhalten. Israel ist nicht nur ein strategischer Verbündeter, sondern auch die einzige Nation, gegenüber der Washington wiederholt seine Bereitschaft zur militärischen Verteidigung bekundet hat. Ein Rückzug, wie er in der Ukraine erfolgte, wo das Weiße Haus die Entsendung von Truppen ablehnte, würde nicht nur die ohnehin schon angeschlagene Identität der USA als Supermacht schwächen, sondern auch ihre Glaubwürdigkeit zerstören. Das wäre ein echtes Geschenk für Xi Jinping … und für alle, die auf einen endgültigen Rückzug des „Westens“ hoffen.
Die tiefe Krise der US-Hegemonie zeigt sich im Nahen und Mittleren Osten in ihrer ganzen Schärfe: Die Realität ist, dass Tel Aviv nicht mehr nur als Verbündeter Washingtons agiert, sondern als Akteur, der seinen Protektor zu manipulieren versucht. Dies ist eine gefährliche Umkehrung der traditionellen Rollenverteilung zwischen dem imperialistischen Zentrum und seinen Vasallenstaaten, mit unvorhersehbaren Folgen für die verschiedenen geopolitischen Schauplätze der Welt, auf die Washington seine ehemalige Rolle als Weltpolizist auslagern wollte.
Ein langer Krieg, ein ungewisser Sieg
Seit dem Jom-Kippur-Krieg 1973 bis zum 7. Oktober 2023 bestand die israelische Doktrin darin, langwierige strategische Kriege zu vermeiden. Für Israel ging es darum, seine Feinde zu bekämpfen, indem es sie spaltete, angefangen bei den Palästinenser:innen. Daher rührt die Politik der Unterstützung der Hamas in den 1980er Jahren gegen die Anhänger:innen der Fatah und Yasser Arafat oder auch die kürzlich bekannt gewordene Unterstützung der Zellen des Islamischen Staates im Gazastreifen gegen die Hamas. In Gaza waren die verschiedenen Militäraktionen Teil taktischer, fragmentierter und zeitlich begrenzter Kampagnen. „Den Rasen mähen“, um es im Jargon der israelischen Armee zu sagen.
Diese Logik ist zerbrochen. Israel führt nun einen totalen Krieg an mehreren Fronten gegen staatliche und nichtstaatliche Akteure. Es geht nicht mehr darum, den Feind zu spalten, sondern ihn auszurotten. Sollte dieses maximalistische Ziel jedoch nicht erreicht werden, könnte sich dies zu einem selbstmörderischen Konflikt für den zionistischen Staat entwickeln.
Netanjahus Dilemma
Der zionistische Staat hat wiederholt seine Fähigkeit unter Beweis gestellt, in einem feindlichen Umfeld zu überleben. Aber der Krieg gegen den Iran ist kein gewöhnlicher Feldzug: Es geht um seine Existenz. Wenn er scheitert, gibt es möglicherweise kein Zurück mehr. Netanjahu befindet sich daher an einem historischen Wendepunkt. Er möchte seine Völkermordoperation fortsetzen, um seinen „Lebensraum“ zu erweitern, was die systematische Eliminierung möglichst vieler Palästinenser:innen, die als Bedrohung angesehen werden (einschließlich Frauen und Kinder), mit dem Ziel ihrer Vertreibung aus dem als Groß-Israel beanspruchten Gebiet beinhaltet. Angesichts der wachsenden internen und internationalen Schwierigkeiten bei der Durchführung des Genozids scheint der israelische Ministerpräsident beschlossen zu haben, den Iran, den „großen Satan“, in die Knie zu zwingen, um einen strategischen Sieg zu erringen. Dieser soll es ihm ermöglichen, zu den bekannten Kampagnen der periodischen Einkesselung der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten zurückzukehren.
Ein anderer politischer oder diplomatischer Ausweg wäre nicht nur eine einfache Niederlage für Israel, sondern würde wahrscheinlich den Anfang vom Ende eines expansionistischen, ethnonationalistischen Projekts bedeuten, das in bestimmten Kreisen der zionistischen Macht tief verwurzelt ist. Es könnte eine potenziell fatale Krise für den israelischen Staat auslösen. Hinter seinem Image der Stärke steht Netanjahu an der Spitze einer brutalen Konterrevolution und verkörpert mehr als jeder andere zionistische Führer zuvor eine verzweifelte Strategie, die Israel dazu treibt, im Namen des Überlebens des Kolonialstaates alle ethischen, diplomatischen und militärischen Grenzen zu überschreiten.
Zwanzig Monate Massaker in Gaza haben zu keiner Lösung geführt, die den Staat Israel sicherer macht. Im Gegenteil, der Völkermord hat seine Grundlagen untergraben, die inneren Spaltungen verschärft und die jüdischen Gemeinden auf der ganzen Welt gefährdet, die zu Unrecht mit dem zionistischen Projekt gleichgesetzt werden. Einige sprechen bereits von der Verwandlung Israels in einen neuen Pariastaat. Mehr als feindliche Raketen oder Drohnen könnte diese extreme Kriegslogik dem Staat Israel ein Ende bereiten.
Gegen die israelische Aggression, für die Verteidigung des Iran
Das Ayatollah-Regime entstand aus der Beschlagnahmung und blutigen Niederschlagung der iranischen Revolution gegen den Schah von Persien im Jahr 1979. Das Regime wird von den Massen, seien es Frauen, Jugendliche oder die arbeitende Bevölkerung, zutiefst gehasst, wie die aufeinanderfolgenden Aufstände der letzten Jahre zeigen. Der israelische Ministerpräsident instrumentalisiert diese aufgestaute Wut und ruft die Iraner:innen dazu auf, sich gegen ein „bösartiges und unterdrückerisches Regime” zu erheben. Netanjahus Ziel ist es jedoch nicht, die Bevölkerung von diesem theokratischen und reaktionären Regime zu befreien. Er will sicherstellen, dass der Iran aufhört, ein souveräner Staat zu sein, und wieder zu einer Marionette der imperialistischen Mächte wird, wie es im gesamten 20. Jahrhundert bis 1979 der Fall war. Dieses Ziel teilen Trump und die amerikanischen Neokonservativen, die sich nach der Zeit zurücksehnen, als der Schah einer der wichtigsten proamerikanischen Wächter der ölreichen Region war.
Doch wie Shervin Ahmadi in Orient XXI sagt:
Zweifellos hat die Islamische Republik ihre Basis in der Bevölkerung verloren. Was viele Analysten jedoch unterschätzen, ist die Tiefe des iranischen Nationalismus, den selbst diejenigen teilen, die der aktuellen Regierung feindlich gegenüberstehen. Dieses historisch verwurzelte Gefühl sowie eine gewisse Feindseligkeit gegenüber dem Westen sind nach wie vor stark. Man kann sich daher fragen, ob die Äußerungen Netanjahus nicht den gegenteiligen Effekt haben werden: die Bevölkerung hinter einem Regime zu vereinen. Diese Reaktion wird jedoch nicht den Charakter einer Massenmobilisierung zugunsten der bestehenden Macht haben, wie es während des Iran-Irak-Krieges (1980 bis 1988) der Fall war. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass es Israel gelingen wird, einem Land mit 90 Millionen Einwohner:innen eine Militärregierung aufzuzwingen. Netanjahus Ziel könnte vielmehr darin bestehen, Chaos zu stiften, indem er die Spaltungen zwischen den Gemeinschaften im Land verschärft, um einen reaktionären Bürgerkrieg zu schüren, ähnlich dem, den die Amerikaner nach dem Scheitern der Invasion im Irak 2003 provoziert haben.
In diesem Sinne wird die wahre Befreiung der iranischen Massen weder durch die blutigen Hände des zionistischen Aggressors noch durch die direkte oder indirekte Unterstützung der USA kommen. Außerdem haben weder die USA noch Israel, noch irgendeine der Atommächte wie Frankreich irgendeine moralische, ethische oder „demokratische” Autorität, einem souveränen Land die Nutzung der Kernenergie zu verweigern. Vor diesem Hintergrund sprechen wir uns entschieden gegen die militärische Aggression Israels gegen den Iran und gegen jeden Versuch imperialistischer Destabilisierung und Einmischung aus. Wir rufen die Massen in den imperialistischen Ländern wie auch anderswo dazu auf, jede Zusammenarbeit mit dieser imperialistischen Aggression und ihren Handlangern abzulehnen, alle Sanktionen gegen das Land zurückzuweisen und den Iran in völliger Unabhängigkeit vom Regime der Ayatollahs zu verteidigen. Für die iranischen Massen ist dies der einzige Weg, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dieses verfaulte Regime durch ihre eigenen Strukturen der Selbstorganisation zu ersetzen, indem sie an die Erfahrungen der Shuras, der Revolutionsräte von 1978 bis 1979, anknüpfen und letztendlich eine Regierung der arbeitenden Massen errichten. Eine neue iranische Revolution im explosiven Nahen Osten von heute könnte der Funke sein, der die Massen der Region entflammt und das jahrzehntelange Leiden insbesondere des gemarterten palästinensischen Volkes beendet.
Dieser Artikel erschien zunächst am 16. Juni in unserer französischen Schwesterzeitung Révolution Permanente.