Iran: Warum wir alle Arbeiter*innen in Haft-Tapeh sein müssen

20.11.2018, Lesezeit 10 Min.
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Seit über zwei Wochen streiken im Iran wieder die Arbeiter*innen der Zuckerfabrik von Haft-Tapeh. Hintergrund ist die neoliberale Regierungspolitik. Die Forderungen der Arbeiter*innen nach Selbstverwaltung könnten Millionen den Weg weisen.

Titelbild: Solidarität der Lehrer*innen im Iran mit den Streikenden. Auf einem Schild steht: „Ich bin ein Lehrer. Ich solidarisiere mich mit der Arbeiter*innen in Haft-Tapeh, Hepko, Fulad und allen anderen Ausgebeuteten.“

Seit über zehn Jahren schon kämpft die Belegschaft der größten Zuckerfabrik des Irans in Haft-Tapeh. Zunächst gegen Schließung, dann gegen Privatisierung, seit 2014 gegen die Auswirkungen der Privatisierung. Über 4.000 Arbeiter*innen schuften für die Profite ihrer Chefs und zum wiederholten Male zahlen die monatelang keine Löhne. Der jetzige Eigentümer dagegen hat Milliarden in Krediten eingestrichen und ist nicht auffindbar. So „funktioniert“ der Neoliberalismus überall: Die Kapitalist*innen nehmen sich, was sie brauchen, und auf und davon sind sie. Folgerichtig fordern die Arbeiter*innen der Zuckerfabrik nun die Verstaatlichung der Fabrik unter Arbeiter*innenkontrolle.

Der jüngste Streik verläuft seit zwei Wochen. Währenddessen wurden 16 Arbeiter*innen und eine Journalistin festgenommen. Unter den Arbeiter*innen ist Esmail Bakhshi, Betriebsrat der unabhängigen Arbeiter*innengewerkschaft von Haft-Tapeh. So gibt es vielerorts im Iran unverhüllte Auseinandersetzungen zwischen den Klassen, für die die Zuckerfabrik ein einigendes Symbol darstellt. Auch im Stahlbetrieb Fulad Ahvaz in der südiranischen Stadt Ahvaz wird zum Beispiel gekämpft. Dort geht es um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen, außerdem um legale Organisierung in der Gewerkschaft. Die unabhängige Organisierung, ob in der Zucker- oder in der Stahlindustrie, fürchten die Chefs am meisten, da sie ihnen sehr gefährlich werden kann. Auf dem Spiel stehen schon lange nicht mehr nur die Gewinne einiger einzelner korrupter Chef*innen, sondern ihrer ganzen Klasse.

„Wir alle sind Arbeiter*innen in Haft-Tapeh!“

Der vom reaktionären iranischen Regime im Interesse des Kapitals beherrschte Iran ist seit Jahren in einer politischen und ökonomischen Krise. Seit die USA Wirtschaftssanktionen verhängt haben, wird die Situation nochmal schlimmer – aber auch der Widerstand wächst. So sind die Beschäftigten von Haft-Tapeh keineswegs allein. Es gibt gegenseitige Solidarität zwischen ihnen und Sektoren der Lehrer*innen, Busfahrer*innen, Stahlarbeiter*innen sowie Studierenden, unter der Parole „Brot, Arbeit, Freiheit, Räte“. Eine weitere wichtige Parole lautet: „Wir alle sind Arbeiter*innen in Haft-Tapeh!“.

Im Video rufen die Menschen: „Freiheit für alle inhaftierten Haft-Tapeh-Arbeiter*innen“, „Studierende und Arbeiter*innen, vereinigt euch!“ und „Drohungen und Gefangenschaft funktionieren nicht mehr!“

Im Video solidarisieren sich die Arbeiter* innen der Fulad-Stahlfabrik in Ahvaz mit den inhaftierten Zucker-Arbeiter* innen von Haft-Tapeh und rufen: „Wenn die Arbeiter*innen der Haft-Tapeh-Fabrik gestern festgenommen wurden, werden wir morgen dran sein.“ Damit gehen sie einen Schritt zur Einigung als Klasse, denn sie wissen, dass mit den Angriffen nicht nur ein einzelner Betrieb gemeint ist. Sie rufen weiterhin: „Freiheit für die inhaftierten Arbeiter*innen!“

Ein Student der Alame-Universität Teheran, einer der wichtigsten Universitäten des Irans, sagt in einer Rede zum Haft-Tapeh-Streik:

Die Kontrolle über die Produktion und Produktionsmittel durch die Arbeiter*innen als Produzent*innen ist die legitime Forderung der Haft-Tapeh-Arbeiter* innen. Die Herrschaft der Privatisierung über alle Bereiche unseres Lebens sollte mit unseren bewussten und vielseitigen Antworten und Kämpfen herausgefordert werden. Den Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital hören wir nicht nur von Arbeiter*innen in Haft-Tapeh, sondern wir hören ihn von Arbeiter*innen anderer Sektoren, von Lehrer*innen und von Student*innen. (Übersetzung: Narges Nassimi)

Wir stimmen ihm zu. Die Forderung nach Kontrolle über die eigene Produktion ist notwendig, um im sterbenden Neoliberalismus nicht unter die Räder zu geraten. Sie ist außerdem notwendig, damit sich die Arbeiter*innenklasse politisch sammeln kann. Denn die reaktionären iranischen Autoritäten sind nicht untätig, wenn die Arbeiter*innen streiken, sondern intervenieren ganz selbstverständlich auf Seiten der Bosse. Das zeigt die Verhaftung des Betriebsrats Esmail Bakhshi vom Sonntag. In der Bezirksstadt Schusch nahe Haft-Tapeh demonstrierten gestern Arbeiter*innen und ihre Familien vor dem zuständigen Gerichtsgebäude für die Freilassung ihres Delegierten und der anderen Inhaftierten. Diese Solidarität ist sehr wichtig, da sie nicht nur den legitimen unmittelbaren Anliegen der Inhaftierten, sondern auch der Verbreitung des Kampfes dient, der sich gegen die neoliberale Regierung und im Endeffekt gegen das reaktionäre iranische Regime selbst als Projekt einer kapitalistischen Verwaltung im Iran richtet.

Deshalb wäre es auch aussichtslos, allein auf Verbesserungen durch Reformen zu setzen, da ein Sturz der neoliberalen Regierung und des ganzen reaktionär-klerikalen Regimes durch die Arbeiter*innen den Kapitalismus selbst in Gefahr bringen könnte – und deshalb sind die Vorbereitungsaufgaben der proletarischen Selbstorganisierung umso entscheidender. Entsprechend sind Hochburgen wie Haft-Tapeh Ausgangspunkte einer Hegemonie der Arbeiter*innenklasse im Bündnis mit den anderen unterdrückten Teilen der Gesellschaft, die nicht über die gesellschaftliche Macht des Proletariats verfügen, aber aus politischen, geschlechtlichen, nationalen oder sexuellen Gründen unterworfen werden. Im Iran wehren sich zum Beispiel auch die Kurd*innen gegen ihre Unterdrückung.

Wie sehr die politische Befreiung mit dem Kampf des Proletariats verbunden ist, zeigt auch die Beteiligung der Frauen im Kampf von Haft-Tapeh. Die Arbeiterinnen der Zuckerfabrik protestieren gemeinsam mit ihren männlichen Kollegen gegen die Ausbeutung und Unterdrückung. Sie zeigen, dass keine Art von Gewalt und Repression der Herrschenden sie aufhalten kann. Sie rufen nach der Unterstützung anderer Sektoren der Ausgebeuteten und Unterdrückten. Und in der Solidarität gegen die Verhaftung der Zuckerarbeiter*innen protestieren die Frauen ebenfalls mit:

Dies ist eine Vereinigung der Kämpfe von Frauen und der ganzen Arbeiter*innenklasse in der Praxis. Die patriarchal unterdrückten Frauen treten als Subjekte auf und unter den Kämpfenden selbst werden patriarchale Haltungen konfrontiert, zum Beispiel auf Kundgebungen, denn die Frauen in ihrer politischen Tätigkeit zu beschränken, stellt eine Schwächung für alle dar. Darüber hinaus sind die Frauen als Teil der lohnabhängigen Klasse ein mächtiger Sektor für die Befreiung insgesamt, die deshalb vom Regime doppelt gefürchtet werden – als Frauen und als Arbeiterinnen.

Für die internationale Einheit der Arbeiter*innen – mit einem Übergangsprogramm

Die Solidarität bleibt nicht nur im Iran und darf auch nicht nur im Iran bleiben, denn der Kapitalismus ist ein Weltsystem und kann national nicht besiegt werden. In Köln solidarisierten sich Arbeiter*innen mit dem Motto aus dem Iran: „Wir sind alle Arbeiter*innen in Haft-Tapeh!“ (siehe Foto)

Wir rufen weitere Betriebs- und Gewerkschaftsgliederungen auf, es ihnen gleichzutun. Denn in der verschärften Form einer Diktatur treffen die Kolleg*innen im Iran Angriffe, die wir auch kennen: Privatisierung, Lohndrückerei, steigende Lebenshaltungskosten, Nichtanerkennung gewerkschaftlicher und betrieblicher Vertretungen. Das Elend des Neoliberalismus trifft alle Lohnabhängigen weltweit – in unterschiedlicher Form – und es kann nur durch die Vereinigung der Lohnabhängigen zurückgeschlagen werden. Besonders seit der Weltwirtschaftskrise von 2008 sehen die Kapitalist*innen ihre Profite unter Druck und können nicht anders, als unserer Klasse die notwendig kommenden Krisen aufzubürden. Das geschieht im Iran und das wird auch bei uns mehr geschehen, sobald Rezession herrscht, deshalb ist internationale Solidarität keine mildtätige Handlung, sondern notwendige Selbstverteidigung.

Wir vertrauen zur Verbesserung der Bedingungen nicht in unsere bürgerlichen Regierungen und wir lehnen alle Sanktionen gegen den Iran ab, da sie schließlich die Bevölkerung treffen. Ebenso lehnen wir die Investitionen von Kapital aus dem Westen ab, die unsere Kolleg*innen im Iran lediglich ausbeuten. Die Kapitalist*innen wollen hier wie dort nur ihre Profite machen, dafür sperren sie in Haft-Tapeh Gewerkschafter*innen ein – und das deutsche Kapital hat keinen Skrupel, in seinen Auslandsinvestitionen dasselbe zu tun. Wenn auch 4.000 Kilometer entfernt, sind uns die Arbeiter*innen in Haft-Tapeh näher als unsere eigenen Ausbeuter*innen. Und wenn wir sagen „Wir sind alle Arbeiter*innen in Haft-Tapeh!“, dann meinen wir damit, dass nur die Vereinigung der Arbeiter*innen als politische Klasse im Kampf um die Macht uns anhaltende Verbesserungen bringt. Dafür ist ein revolutionäres Programm nötig, für das die Erfahrungen aus Haft-Tapeh weltweite Bedeutung haben.

Besonders die Forderungen der Arbeiter*innen nach Verstaatlichung unter Arbeiter*innenkontrolle und der Entwicklung von Arbeiter*innenräten als eigene Organe geben uns Mut. Mit dieser Perspektive und dieser Methode konnte zum Beispiel in der argentinischen Keramikfabrik Zanon (heute „Fasinpat“, Fabrik ohne Chefs) nach langen harten Kämpfen ein wichtiger Sieg der Arbeiter*innen errungen werden. Unserer Ansicht nach ist eine unabhängige Organisierung der Arbeiter*innen mit einem antibürokratischen, antikapitalistischen Programm unabdingbar, um zu gewinnen. Wir stützen uns auf das Vorbild der PTS in Argentinien, deren Strategie Zanon und weitere Erfolge erst ermöglichte.

Reformistische Abkürzungsversuche – das zeigt gerade die Geschichte der unter Mitwirkung des Stalinismus gestohlenen Revolution im Iran – fallen unserer Klasse schwer auf die Füße. Der Iran bleibt unreformierbar, jeder Versuch des Ausgleichs wird von den Feinden der Arbeiter*innen erneut brutal ausgenutzt werden, um sie zu hintergehen und zu ermorden. Und auch in Deutschland kennen wir den Verrat des Reformismus: Von der Novemberrevolution bis zu Hartz IV verkaufte uns die Sozialdemokratie. In der DDR schoss uns die Bürokratie im Arbeiter*innenaufstand von 1953 nieder und organisierte 1989/90 den kapitalistischen Ausverkauf des Landes noch mit, der Elend und Verzweiflung brachte. All das kennen wir aus unserer eigenen Geschichte: Sobald sich die Bedingungen zuspitzen, wie jetzt im Iran, kann nur auf die Arbeiter*innenklasse selbst vertraut werden, die dafür eine eigene Partei mit revolutionärem Übergangsprogramm braucht – und nicht weniger.

Die Frauen in Haft-Tapeh haben eine wichtige Stimme, mit der sie für die unterdrückten lohnabhängigen Frauen der Region und weltweit kämpfen. Der neoliberale Feminismus, den man uns verkaufen möchte, will reiche Frauen mit Quoten an der Spitze der Konzerne und der bürgerlichen Politik sehen und befürwortet imperialistische Wirtschafts- und Militärexpeditionen in den Nahen Osten. Dem gegenüber steht die proletarische Frauenbewegung, die an der Seite mit männlichen Kollegen und den Mitteln des Proletariats um die tatsächliche Befreiung der Frauen und aller Unterdrückten sowie für den Sozialismus streitet. Als feministische Aktivist*innen wollen wir von den lohnabhängigen Frauen, die weltweit kämpfen, lernen.

Wenn wir von der Notwendigkeit eines Sieges in Haft-Tapeh durch die Einheit der Arbeiter*innen als Vorbild für Millionen Arbeiter*innen sprechen, dann geht diese Losung also über eine einzelne Zuckerfabrik hinaus, wenn sich auch dort eine Avantgarde gebildet hat: Nur eine internationale revolutionär-sozialistische Strömung mit einem Übergangsprogramm, das die Verstaatlichung unter Arbeiter*innenkontrolle und die Enteignung der Schlüsselindustrien sowie die Zusammenführung demokratischer und Klassenfragen unter Hegemonie des Proletariats beinhaltet, kann die im Streik enthaltenen Losungen schließlich zu Ende bringen. Für den Aufbau einer solchen Strömung wollen wir den Dialog anbieten.

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