Ich bin froh, internationalistisch organisiert zu sein

Am 24. Mai nahmen wir als Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO) an der internationalistischen Versammlung unserer Schwesterorganisation Révolution Permanente in Paris teil. Und diese Versammlung hat mir neue Kraft gegeben, gegen die internationale extreme Rechte, gegen Krieg und gegen Aufrüstung zu kämpfen. Ein Erfahrungsbericht.
Es sind dunkle Zeiten, wenn man sie sich nüchtern anschaut. Überall auf der Welt ist die extreme Rechte im Aufschwung – oder regiert bereits wie in den USA, in Argentinien, in unseren Nachbarländern wie Italien, Ungarn, Polen, aber auch in etlichen weiteren Ländern dieser Welt. Und die militärisch bereits stärksten unter ihnen, rüsten noch weiter auf. Sie machen klar, wie sie sich unsere Zukunft vorstellen: Krieg, Hunger, Armut, Wohnungsnot, Obdachlosigkeit, Dauerarbeit, kaum bis gar keine Rente mehr. Und damit wir nicht merken, wer unser wirklicher Feind ist, spielen sie uns gegeneinander aus. Mit Rassismus, mit Sexismus, mit Queerfeindlichkeit und vielen weiteren Diskriminierungsformen.
In diesen Zeiten kann es einem schwer vorkommen, einen Ausweg zu sehen, eine Perspektive, eine Zukunft in Sicherheit. Und das ist auch niemandem zu verübeln, wenn selbst ihre vermeintlichen „Hoffnungsträger“ der reformistischen und selbsternannten „linken“ Parteien in den Regierungen nicht einmal Symptombekämpfung leisten können. Ob die Linkspartei bei uns in Deutschland, ob Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez in den USA, Nouveau Front Populaire (NFP) in Frankreich und viele weitere ähnliche Parteien in anderen Ländern: Sie alle versprechen in ihren Wahlkämpfen mehr, als sie am Ende überhaupt erfüllen können. Besteuerung der Reichen, Kampf gegen Rechts, etc. predigen sie uns vor, getan haben sie in ihren gesamten Regierungszeiten aber noch nie etwas in diese Richtung. Wenn einem also Hoffnung gemacht wird und diese Hoffnung ins Nichts verläuft, kann ich nachvollziehen, woher die Hoffnungslosigkeit und der Rückzug in die Isolation kommen.
Aber es gibt einen Ausweg und der nennt sich Organisierung. Nicht irgendeine Art von Organisierung, wie irgendwelche Linkspartei-Politiker:innen das floskelhaft in der ein oder anderen Rede mal erwähnen. Nein, ich meine eine revolutionäre Organisierung. Die aktive Entscheidung, Teil einer revolutionären Organisation zu werden, die wirklich jeden Tag unermüdlich dafür kämpft, diese Welt für uns zu gewinnen. Die nicht in nationalen Grenzen denkt und einen isolierten Kampf gegen eine international bestens – und damit meine ich von A bis Z durchstrukturierte und hochgerüstete – organisierte Kapitalist:innenklasse zu führen versucht. Nein, wovon ich rede, ist eine internationalistische Organisierung.
Vom Teenager zum Revolutionär
Bis vor drei Jahren wusste ich nichts damit anzufangen. Was soll das eigentlich bedeuten, internationalistisch organisiert zu sein? Das war bis zu dem Punkt, als eine Freundin auf mich zukam und mir von ihrer Organisation erzählte. Diese Organisation sollte später mein wichtigstes, verlässlichstes und vertrautestes Zuhause sein. Meine Genoss:innen, meine politische Arbeit, meine Zeit bei RIO, der Revolutionären Internationalistischen Organisation, sind heute mein erster Gedanke beim Aufwachen und mein letzter Gedanke vor dem Schlafengehen. Und der beste Beweis dafür, dass ich wirklich überzeugt bin von dem, was ich sage, ist der Blick zurück in meine Vergangenheit und wo ich heute stehe.
Ich komme aus einem Hartz IV-Haushalt. Armut hat mein Leben bestimmt und häusliche Gewalt hat meine Psyche und meinen Körper für immer geschädigt. Ich kannte nichts Anderes und habe viele Situationen nur mit Gewalt zu bewältigen versucht. Ich habe wegen der häuslichen und der dadurch resultierenden mentalen Probleme eine miserable Schullaufbahn, was mir meine Zukunft in der Arbeitswelt bis heute erschwert hat und immer noch erschwert. Arbeit war für mich nicht finanzielle Unabhängigkeit – Arbeit war für mich Überleben.
Was mein Erwachsenwerden ausgemacht hat, war Orientierungs- und Hoffnungslosigkeit. Und um mich herum, geschahen etliche politische Ereignisse, die mein und das Leben von Millionen, wenn nicht gar Milliarden Menschen, für immer negativ beeinflussten. Ich war 6 Jahre alt, als die größte – seit Februar 2023 nur noch zweitgrößte – Erdbebenkatastrophe in der Türkei passierte und ein Familienangehöriger starb. Weil ich, trotz dessen, dass ich in Deutschland geboren bin, keinen deutschen Pass besaß und meinem Vater die Ausreise wegen Aufenthaltsgründen nicht erlaubt war, bekam ich zum ersten Mal zu spüren, wie die Politik mein Leben bestimmt – eigentlich immer im negativen Sinne.
Nach dem 11. September 2001 veränderte sich unser bis dahin weltoffenes Dorf in eine rechte Kloake. Mein Vater wurde an Autokreuzungen beleidigt, die Mütter von Freund:innen haben das Kopftuch aus Sicherheitsgründen abgelegt. Die Jahre danach waren erfüllt von antimuslimischem Rassismus, ob im Alltag, auf der Straße, in der Schule oder in der Politik. Fünf Jahre später, im Dezember 2006, wurde die antimuslimische Propaganda im Namen des „War on terror“, also der angeblichen „Terrorbekämpfung“, so krass salonfähig gemacht, dass wir das vermutlich erste Mal in der Geschichte der Menschheit eine öffentliche Hinrichtung live im Fernsehen miterleben konnten: Die Hinrichtung von Saddam Hussein. Ich dachte damals, er hat es verdient. Heute ist mir klar, dass das keine Bekämpfung von Terror war, sondern die höchste Form der medialen Projizierung von antimuslimischem Rassismus. Ich habe keinerlei Mitleid mit diesem Mann, aber ich habe Mitleid mit allen Muslim:innen, die danach behandelt wurden und bis heute immer noch behandelt werden wie Menschen zweiter, dritter oder gar vierter Klasse.
Seit circa 2018 politisierte ich mich durch Fragen zu Rassismus. Doch wie er entstanden ist, wie er sich nicht nur individuell, sondern auch strukturell zeigt und wie er mit anderen Diskriminierungsformen zusammenhängt, konnte ich nie richtig erklären. Weder ich noch meine ersten politischen Bücher von Tupoka Ogette und Tarek Baé konnten das. Heute lache ich darüber, dass ich mir genau diese beiden Personen als Vorbilder genommen hatte – irgendwie musste man ja mal anfangen. Aber schnell lernte ich eine Freundin kennen, die heute meine Genossin ist und mich zum Marxismus gebracht hat. Wie ein Vorhang öffneten sich die Antworten auf meine Fragen vor meinen Augen. In wenigen Monaten wusste ich, wie Rassismus wirklich funktioniert, wie Sexismus und Queerfeindlichkeit ähnlich funktionieren, wie all dies ein Mittel zur Spaltung unserer Klasse, der Arbeiter:innenklasse ist.
Vom Individualismus zum Kollektiv
In all dieser Zeit haben sich einige Sachen drastisch verändert. Nicht nur meine Lebensumstände, die zunehmend besser wurden, wenn auch nie wirklich zufriedenstellend oder ansatzweise zum sorglosen Leben ausreichend, sondern auch mein Verständnis davon, wie ich mir eine Gesellschaft, eine befreite, sichere Gesellschaft vorstelle.
Ich bin früher all meine Probleme alleine angegangen. Auch heute tendiere ich immer noch dazu, in die Isolation zu verschwinden, wenn meine Depressionen Überhand gewinnen oder wenn schon wieder der nächste gelbe Brief aus meinem Briefkasten hervorschaut.
Das musst du alleine schaffen, Baki.
Das sollen oder dürfen andere nicht wissen, Baki.
Du musst dich für immer schämen, Baki.
Deine Depressionen sind dein Problem, Baki.
Du bist selber Schuld an deiner Lage, Baki.
Aber bin ich das wirklich? Muss ich meine Probleme wirklich alleine bewältigen? Muss ich unangenehme Dinge aus meiner Vergangenheit verheimlichen? Muss ich mich wirklich schämen? Diese Fragen wurden mir in den letzten drei Jahren immer wieder von Genoss:innen beantwortet. Nicht durch Worte, sondern Taten. Wenn ich mir kein Essen leisten konnte, kochten sie, luden mich zum Essen ein, kauften meinen Kühlschrank voll. Zusammen fanden wir einen Therapieplatz. Als ich aus meiner letzten Wohnung unerwartet raus musste, waren sie es, die mich in ihrem Zimmer aufgenommen haben. In jeder Geldnot, wenn ich wieder einen Spendenpool eröffnen musste, waren sie es, die sich mit mehreren Hundert Euros beteiligten. Sogar in meiner arbeitslosen Phase, wo ich nicht einmal versichert war, waren sie es, die mir geholfen haben.
Und sie halfen mir nicht nur mit meinen Problemen, sondern sie beantworteten auch meine Fragen. Jede:r Einzelne von ihnen hat verschiedene Themenfelder, zu denen sie Bücher schreiben könnten. Ich habe Politik über die Türkei, das Heimatland meines Vaters, gelernt. Ich habe über historische Ereignisse erfahren, wie beispielsweise den migrantischen Streiks bei Ford 1973 oder den Anfängen der Massenstreiks in den USA, die zur Brot-und-Rosen-Bewegung weltweit führten. Ich lernte, wie man mit Menschen dialogisiert, wie man sich mit ihnen verbündet und wie man politische Interventionen vorbereitet und durchführt.
Wir haben unsere Geburtstage zusammen gefeiert – ich selbst hatte erst dieses Jahr den schönsten Geburtstag meines Lebens mit ihnen. Wir haben die Abgaben unserer Uni-Arbeiten miteinander zelebriert. Wir sind gemeinsam in den Urlaub geflogen und haben neue Städte und Länder kennengelernt. Und manche von uns hatten sogar das Glück, Seite an Seite mit Genoss:innen in einem Kreißsaal zu verbringen, als diese ein neues Leben zur Welt brachten.
Wir haben gemeinsam so viele Kämpfe geführt und gewonnen. Meine Genossin Inés Heider, die rechtswidrig gekündigt wurde, hat ihrem Boss gezeigt, mit wem er sich wirklich angelegt hat. Nämlich nicht nur mit einer Schulsozialarbeiterin, die gegen die prekären Verhältnisse und Kürzungen an Berliner Schulen kämpfte, sondern auch mit einer Revolutionärin, die eine ganze Organisation hinter sich hatte – nicht nur in Deutschland, sondern auch international bis in die Hauptstadt Argentiniens. Wir haben mit Genoss:innen zusammen Gerichtsprozesse wegen „Antisemitismus“ im Palästina-Kontext gewonnen und einer gesamten Bundesregierung gezeigt: Was wir machen, ist nicht falsch, sondern selbst in ihren eigenen auferlegten Bürgergesetzen legal.
Wir haben uns die Straßen mit tausenden weiteren Antifaschist:innen und die extrem rechte AfD mehrere Stunden in Riesa blockiert. Wir haben Hörsäle besetzt und uns die Räume genommen, die uns verwehrt wurden. Wir haben Beschäftigte von Riesa-Nudeln dabei unterstützt, ihren Streik für mehr Lohn zu gewinnen – und sie haben gewonnen! Sogar jetzt stehen wir Seite an Seite mit Beschäftigten bei der Charité Facility Management (CFM, Tochterunternehmen der Charité) und supporten ihren Kampf um einen 100-prozentigen TVöD und die Rückführung in die Charité.
Aber wir haben uns auch immer gegenseitig geschützt und schützen müssen, uns und unsere Mitmenschen. Wir hielten zusammen, als ein Angreifer in unsere Streikdemonstration in München gefahren ist und zwei Personen das Leben nahm. Wir hielten zusammen, als ein Zionist unser Palästinacamp in München anzündete, wohlwissend, es hätte dutzende Aktivist:innen, die im Schlaf lagen, töten können. Wir waren für die Familien von Sammy Baker und Danny Oswald da, deren Angehörige durch rassistische Polizeigewalt getötet wurden. Wir leisteten Widerstand gegen massive Polizeigewalt auf den jährlichen Gedenkdemonstrationen zum Anschlag in Hanau. Wir begleiteten uns gegenseitig nach Hause, holten uns von der Schule oder Arbeit ab, verbrachten die freie Zeit draußen miteinander, wenn eine:r von uns gerade im Mittelpunkt von rassistischer Hetze durch Springer-Medien und Konsorten stand.
Von Europa bis Lateinamerika
All diese Erfahrungen schweißen uns zusammen. Wir sind nicht einfach Marxist:innen, die für den Kommunismus kämpfen. Wir leben die Gesellschaft, die wir uns vorstellen, bereits jetzt bestmöglich vor, so gut es in diesen kapitalistischen Verhältnissen geht. Und was wir hier erfahren, erfahren Menschen weltweit. So auch all unsere Genoss:innen, die wie wir Teil der FT-CI, der Trotzkistischen Fraktion für die Vierte Internationale, sind. Und bei der Veranstaltung am 24. Mai in Paris wurde mir neben den politischen und bewegenden Reden auch eine weitere Sache bewusst: Ich saß gerade in einem Raum mit Hunderten Menschen, die in derselben Organisation sind wie ich, die dieselbe Politik verfolgen – und teilweise dasselbe Leben leben oder lebten.
Ich lernte Internationalismus erneut kennen. Ich kannte sie bereits von diversen Veranstaltungen, unseren Sommercamps und gelegentlichen Besuchen von Genoss:innen aus Frankreich, aus dem Spanischen Staat, aus Italien, aus den USA, aus Argentinien, Brasilien, Bolivien, Peru, Chile, Venezuela, Mexiko, und und und. Und jede dieser Gelegenheiten machte mir nochmal klar, wie bedeutend und wichtig es ist, Internationalist:innen zu sein.
Der Kapitalismus und seine Diener:innen, seine Reichen, seine Militärs und seine Polizist:innen sind so gut organisiert wie nie zuvor. Im Angesicht dieses Gegners kann ein Sieg gar nicht möglich sein, wenn er nicht international stattfindet. Alle Kämpfe, die wir führen, sind miteinander verbunden – also müssen auch wir uns miteinander verbinden, um diese Kämpfe zu gewinnen. „Hoch die internationale Solidarität“ ist keine Demofloskel mehr, die ich irgendwann irgendwo aufschnappte, sondern sie ist nun ein Lebensstandard, den ich nie wieder aufgeben möchte.
Internationalismus brachte mir Erfahrungen, die ich ohne ihn niemals machen könnte. Internationalismus gibt mir die Hoffnung, dass wir wirklich gegen den kapitalistischen Goliath ankommen können. Internationalismus hat dazu geführt, dass einer der größten Fußballlegenden meiner Kindheit, Eric Cantona, sich mit meinem Genossen Anasse Kazib solidarisiert gegen die staatliche Repression, die er auf EU-Ebene erfährt. Internationalismus hat mir gezeigt, wie meine Genossinnen Inés und Leonie zur Bundestagswahl in Deutschland kandidieren konnten, mit einer massenhaften Rückendeckung von Genoss:innen aus mindestens 15 Ländern weltweit.
Vor einigen Jahren wollte ich „nicht mehr hier sein“. Heute ist mein Leben selbst das schönste Geschenk, das ich mir jemals machen konnte. Ich bin froh, dass ich meine schlimmsten Phasen im Leben überlebt habe. Denn sonst könnte ich folgenden Satz niemals sagen:
Ich bin froh, internationalistisch organisiert zu sein und mit Zehntausenden dafür kämpfen zu können, eine Welt zu gewinnen. Hoch die internationale Solidarität!