Großmachtambitionen auf dünnem Fundament

Merz macht den Trump: Offen überschreitet er internationales und nationales Recht. Als starker Mann einer schwachen Regierung will er Deutschland „kriegstüchtig“ machen. Doch noch gibt es eine entscheidende Grenze auf diesem Weg der Bonapartisierung.
„Israel macht die Drecksarbeit für uns alle“ – eine Aussage wie diese hat es selten von einem deutschen Bundeskanzler gegeben. Sie zeigt, wie wenig Friedrich Merz bereit ist, Rücksicht auf das Völkerrecht zu nehmen. Es ist ein Einschnitt: Weg vom Fokus auf diplomatische Initiativen und multilaterale Verhandlungen. Hin zum „Recht des Stärkeren“. Mit seiner Rhetorik bereitet Merz vor, dass auch Deutschland in Zukunft seine Interessen mit Gewalt durchsetzen kann. Der Haushaltsplan seines Vizekanzlers Lars Klingbeil verleiht dem die materielle Wucht: 3,5 Prozent des BIP plant er bis 2029 für die Bundeswehr ein.
Merz sieht Deutschland bereits „zurück auf der internationalen Bühne“. Sein Kurs besteht aus einem vorsichtigen Abtasten, zwischen Anpassung an die USA und den Versuchen, eigenständig aufzutreten. Für die sich verändernde Weltordnung braucht es ein verhärtetes Regime mit der nötigen Feuerkraft. Die Militarisierung schreitet in rasantem Tempo voran und mit ihr der autoritäre Kurs im Inneren: Mit den illegalen Grenzkontrollen und der Aufhebung des Familiennachzugs hat die Merz-Regierung die Forderungen umgesetzt, die sie im Winter noch mit der AfD abstimmte – aber an dem Protest von Millionen scheiterte. Bei den Grenzkontrollen handelt es sich um eine kalkulierte Machtverschiebeung. Ein Kanzler setzt sich über bestehendes Recht hinweg und ignoriert die Entscheidungen deutscher Gerichte. Merz kopiert damit im Kleinen die Methoden von Trump. Es ist der Versuch, der Krise des deutschen Imperialismus mit seiner Zerrissenheit in der Weltordnung und seiner wirtschaftlichen Schwäche durch autoritäre Maßnahmen entgegenzuwirken.
Die westlichen Länder haben in den letzten Jahren vermehrt solche schwachen bonapartistischen Regime gesehen, darunter vor allem die erste Präsidentschaft von Trump und die Regentschaft von Macron. Während die Regierung Trump II selbst einen dramatischen Sprung in der Bonapartisierung durchmacht, stellt sich die Frage, ob Merz es bei einzelnen bonapartistischen Vorstößen belassen kann. Ein Sprung im Autoritarismus würde aber notwendigerweise mit größeren Erschütterungen im politischen System und den Klassenverhältnissen einhergehen.
Wie selten zuvor kommt der Partei Die Linke eine relevante Rolle zu. Wird sie dazu beitragen, eine schlagkräftige linke Opposition gegen Merz zu bilden? Nachdem wir sie wie die meisten Beobachter:innen im Dezember letzten Jahres noch auf dem absteigenden Ast wähnten, hat die Partei mit dem Rückenwind der Massenproteste im Januar und Februar das Comeback geschafft. Nun verschaffen ihr die Sitzverhältnisse im Bundestag eine neue Bedeutung: Nur mit ihr verfügt die Bundesregierung über eine Zweidrittelmehrheit. Die Bundestagsfraktion gibt sich große Mühe, von Merz als loyale Opposition akzeptiert zu werden – was Potenziale für größere Widersprüche in der Partei mit zehntausenden neuen Mitgliedern schafft. Merz hingegen kann kein Interesse haben, sich von der Linkspartei abhängig zu machen, ja nicht einmal von der SPD, die nun ein Verbotsverfahren gegen die AfD prüfen will. Merz braucht die Beinfreiheit, er braucht die AfD als Drohung, um den Mitte-links-Parteien seinen Kurs aufzuzwingen und einen autoritären Kurs durchzusetzen.
Bei dem folgenden Artikel handelt es sich um eine redaktionell überarbeitete Version der Dokumente zum Kongress der Revolutionären Internationalistischen Organisation (RIO), der vom 7. bis 9. Juni 2025 in Berlin stattfand. Die seither erfolgten Entwicklungen, insbesondere mit dem Krieg gegen den Iran, bestätigen im Wesentlichen die Thesen:
1. Die Zwickmühle des deutschen Imperialismus: Unterordnung unter Trump oder schwacher Souveränismus?
Erstmals seit der kapitalistischen Restauration drückt sich mit dem Ukraine-Krieg die internationale Lage stärker auch in Deutschland aus. Zuvor war es wirtschaftlich, politisch und im Klassenkampf meist eine „ruhige Insel“ im Sturm. So etwa während der internationalen Wirtschafts- und Währungskrise ab 2008 und der darauffolgenden Staatsschuldenkrise, aus der Deutschland noch gestärkt als EU-Hegemon hervorgehen konnte. Eine Wiederholung davon ist nicht zu erwarten, da Deutschland viel härter getroffen wird als in früheren Krisen der BRD: Die jetzige Krise greift den Kern des Akkumulationsmodells der BRD selbst an. Nachdem die deutsche Wirtschaft 2023 um 0,3 Prozent schrumpfte und 2024 um 0,2 Prozent, senkten Wirtschaftsforscher die Prognose für 2025 auf 0,0 Prozent, deutlich weniger als der Rest der Eurozone. Einer der Gründe dafür sind die schwer einzuschätzenden Risiken durch die Zölle der USA. Auch wenn Trump mit seinen Einfuhrzöllen zurückrudern musste, hat er doch eine Situation großer Ungewissheit geöffnet, was jegliche Investitionen vor unklare Aussichten stellt.
Es gibt eine sehr widersprüchliche Situation des US-Imperialismus: Die US-Regierung will gleichzeitig den Dollar abwerten und ihre finanzielle Vormachtstellung halten. Dabei sollen China und Europa geschwächt und die heimische Industrie gestärkt werden. Die US-Regierung übt starken politischen Druck auf die Fed-Notenbank aus. Zurzeit gibt es darum noch einen Machtkampf.
Die Zollkrise stellt damit auch eine internationale Währungskrise dar, die die deutsche Industrie als Exportnation besonders trifft. Für Deutschland ist es gut, wenn es möglichst günstig exportieren kann, was jedoch für die USA eine negative Bilanz bedeutet. Durch den starken Protektionismus wird es für andere Länder wie Deutschland schwieriger, gewinnbringend in die USA zu exportieren.
Es gab bisher keinen Absturz der Wirtschaft seit Trumps Antritt, sondern einen kurzfristigen Einschnitt, bevor die US-Regierung ihre Zollpolitik wieder relativiert und auf China zugespitzt hat. Wichtiger werden aber die langfristigen Folgen für Deutschland sein, das große Schwierigkeiten hat, die EU als alternativen Machtblock anzuführen und sich mit seinem Akkumulationsmodell neu ausrichten muss. Sein Geschäftsmodell basierte auf drei Säulen: Günstiger Energie aus Russland, internationaler Freihandel unter dem Schirm der USA und dem Europäischen Binnenmarkt. Zumindest die ersten beiden Ebenen befinden sich in einer grundlegenden Krise.
Die internationale Konfrontation zeigt sich besonders deutlich im Machtkampf mit China, das seinerseits hohe Gegenzölle gegenüber den USA verhängt hat. Diese Entwicklung offenbart eine Krise des Multilateralismus – jener Strategie, auf die das deutsche Kapital lange gesetzt hat und die insbesondere dem exportorientierten Teil der deutschen Wirtschaft zugutekam. Da der Versuch, sich widerspruchsfrei gleichzeitig gute Beziehungen zu USA und China zu unterhalten, nicht mehr aufgeht, wird Deutschland darauf mit einem stärkeren Souveränismus reagieren müssen – sowohl militärisch als auch wirtschaftlich. Auch die brüchige Hegemonie innerhalb der EU wird dazu führen, dass Deutschland seine Interessen künftig eher aus einer geschwächten Position heraus durchsetzen muss – vermehrt mit Druck und weniger durch Konsens.
Doch woran soll sich dieser neue Souveränismus orientieren? Erneut wird eine Debatte über geopolitische Blöcke aufflammen. Der Osten ist für das deutsche Kapital keineswegs abgehakt, doch die Aussicht, die Beziehungen zu Russland wiederherzustellen, bleibt vorerst versperrt. Im Ukraine-Krieg versucht Trump, über die Köpfe der Europäer hinweg direkt mit Putin zu verhandeln – ein Ende des Krieges ist dennoch nicht absehbar. Bisher hat sich Merz den Forderungen Trumps angeschlossen. Allerdings wird es für ihn schwierig sein, einen eindeutig pro-westlichen Kurs durchzusetzen, solange die USA kein echtes Interesse an einem Bündnis mit Europa zeigen. Zugleich gibt es kein einfaches Zurück – nicht zuletzt wegen der ungelösten Frage nach Sicherheitsgarantien für die Ukraine und der umfangreichen Investitionen, die die Bundesrepublik bereits in diese Richtung getätigt hat.
Aufrüstung und Militarisierung sind die bestimmenden Themen aller politischen Bereiche, sei es Außenpolitik, Innenpolitik, Umweltpolitik, Wirtschafts- und Industriepolitik oder Feminismus. Friedrich Merz hat vor, seine Regierung zu einer außenpolitisch geprägten zu machen. Das entspricht zwar auch seinen persönlichen Anlagen, reagiert jedoch vor allem darauf, dass das politische Geschehen in Deutschland stark von den Verwerfungen der Weltpolitik abhängig ist. Der Stellenwert der Außenpolitik drückt sich in der Vergabe der Ministerien aus: Zum ersten Mal seit 1966 haben Kanzler und Außenminister dasselbe Parteibuch. Ziel ist eine „Außenpolitik aus einem Guss“, während auch wenig darauf hindeutet, dass weitere mit der Außenpolitik befasste Ministerien, wie das Verteidigungsministerium unter Boris Pistorius, dabei allzu sehr stören könnten.
Außenminister Johann Wadephul versteht sich mit seiner grünen Vorgängerin Annalena Baerbock zwar gut und lobte ihre Arbeit ausdrücklich („Das war Spitze!“), hat jedoch in seiner Rede zur Amtsübergabe eine Abkehr von einer vermeintlich wertegeleiteten Außenpolitik (Stichwort: feministische Außenpolitik) hin zu einer „sicherheits-, interessen- und wirtschaftsgeleiteten Außenpolitik“. Dieses außenpolitische „Germany first“ trägt der veränderten Weltlage Rechnung, nachdem seit 2022 der „feministische“ Charakter der Ampel-Außenpolitik unter dem Druck der Ereignisse bereits stark in den Hintergrund getreten war. Zum neuen militärischen Schwerpunkt der deutschen Außenpolitik passt, dass Wadephul als ehemaliger Zeitsoldat bisher eher als Experte für Sicherheitspolitik galt.
Allerdings hat sich die Bedeutung des Außenministeriums hin zum Verteidigungsministerium verschoben. Viele der strategischen außenpolitischen Überlegungen werden nun auch durch das Verteidigungsministerium von Boris Pistorius (SPD) gehen, der auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist. Verstärkt wird das durch die Aufrüstung, wo dem Verteidigungsministerium eine entscheidende Rolle zukommen wird, wie es verteilt wird. Insofern ist Wadephul ein Ausdruck, dass Merz sein ganzes Kabinett auf Seite der CDU mit No-Names aufgestellt hat, um sich keine wirkliche Konkurrenz hereinzuholen. Hier ist eine Parallele zu Konrad Adenauer zu sehen, der der eigentliche Chef der Außenpolitik war.
In der deutschen Außenpolitik zeigt sich ein grundlegender Widerspruch: Friedrich Merz hat sich stets klar zum Transatlantizismus bekannt – also zur Ausrichtung auf den Westen. Historisch jedoch war die deutsche Außenpolitik stets von einem Spannungsverhältnis geprägt, in dem sowohl der Transatlantizismus als auch der Kontinentalismus – die Orientierung nach Osten und die Vermittlung gegenüber Russland – eine Rolle spielten. Heute allerdings bietet der Transatlantizismus in der veränderten Weltordnung kein verlässliches Fundament mehr. Donald Trump wirkt dabei lediglich als Katalysator für ein Problem, das sich für Deutschland schon länger abzeichnet: Die strategische Achse zu den USA verliert zunehmend an Stabilität und Wirksamkeit.
Zu Beginn des Ukrainekriegs vollzog das deutsche Kapital zunächst einen deutlichen antirussischen Kurswechsel – ein Schritt, der die eigene Wirtschaft stark schwächte, da sie in hohem Maße von russischer Energie abhängig war. Inzwischen jedoch hat die zweite Regierung Trump selbst einen Richtungswechsel vorgenommen: Sie sucht die Annäherung an Russland, um so einen Keil zwischen Moskau und Peking zu treiben.
Zu Beginn seiner Kanzlerschaft gibt es erste Hoffnungsschimmer, dass Merz’ Fokussierung auf die Westbindung erfolgreich sein könnte. Trumps anfängliche Annäherung an Russland hat bereits erste Enttäuschungen erfahren und durch den Rohstoffdeal mit der Ukraine haben die USA nun wieder ein stärkeres Eigeninteresse an der Unterstützung des Landes. Damit können sie sich nicht mehr so einfach auf die Rolle eines vermeintlich unparteiischen Vermittlers zurückziehen.
Trotz der geopolitischen Abwendung der USA von Europa hat Trump bislang keine „Hardware“ – also weder Truppen noch Waffen – aus Deutschland oder anderen europäischen Staaten abgezogen. Vor diesem Hintergrund hat Merz bei seinen ersten Auslandsbesuchen in Paris, Warschau und Kiew weiterhin eine klar pro-amerikanische Linie vertreten und zugleich den europäischen Souveränismus, wie ihn Emmanuel Macron fordert, abgeschwächt. Das zeigt sich unter anderem in der wichtigen Frage der nuklearen Teilhabe: Merz betonte, dass die französischen Atomwaffen lediglich eine Ergänzung zum US-Schutzschild darstellen könnten.
Womöglich erhält Merz auf diese Weise einen Aufschub. Nach den ersten Gesprächen über den Ukrainekrieg sagte Merz, man habe „eine auch für mich überraschend hohe Übereinstimmung in der Bewertung, was wir jetzt gemeinsam tun“. Doch kann die US-Außenpolitik ebenso plötzlich erneut umschwenken und die zarten deutschen Hoffnungen enttäuschen. Vor allem jedoch ist Trumps Bruch mit dem Multilateralismus nicht einfach ein Betriebsunfall, der nach seiner Amtszeit zu korrigieren wäre. Strategisch und längerfristig führt Merz‘ transatlantische außenpolitische Orientierung in eine Sackgasse – falls er sie starr beibeihalten will. Sein Bemühen um ein verbessertes deutsch-französisches Verhältnis könnte zumindest auch als Vorbereitung gedeutet werden, dass aus dem Transatlantiker noch ein europäischer Souveränist wider Willen werden könnte.
In diesem Zusammenhang treten zentrale, teils widersprüchliche Linien der deutschen Außenpolitik deutlich zutage: Merz will sich zwar an Sicherheitsgarantien nach einem möglichen Waffenstillstand beteiligen – gemeinsam mit europäischen Partnern wie Großbritannien –, allerdings nur unter der Führung der USA. Von der Verteilung der „Kriegsbeute“ in Form strategisch wichtiger Rohstoffe hingegen haben die USA Europa und Deutschland – obwohl sie der zweitgrößte Waffenlieferant sind – faktisch ausgeschlossen. Gleichzeitig hat die Ukraine enorme Schulden gegenüber der EU, und deutsches Kapital investiert weiterhin in verschiedene Bereiche der ukrainischen Wirtschaft – darunter vor allem Produktion, Pharma, Energie, IT und Outsourcing.
Für den deutschen Imperialismus scheint kein Partner mehr wirklich verlässlich zu sein – der Druck wächst, einen stärkeren eigenen Souveränismus und Protektionismus zu entwickeln. Aus historischer Perspektive lässt sich sagen: Die Union war stets die Partei des Transatlantizismus, hervorgegangen aus der Bonner Republik. Die SPD hingegen setzte stark auf die Vermittlung nach Osten – eine Haltung, die allerdings auch innerhalb der Union, insbesondere der CSU, vertreten war, wie das Beispiel von Franz Josef Strauß zeigt. Das Bündnis mit den USA wird nun nicht nur durch Trump, sondern grundsätzlich von den Vereinigten Staaten in Frage gestellt – Trump wirkt dabei lediglich als Verstärker eines bereits länger bestehenden Prozesses.
Unter Trump haben die USA entschieden, die westeuropäischen Staaten fallenzulassen. Russland wiederum hat gezeigt, dass es keine unmittelbare Bedrohung für die USA darstellt – es ist nicht einmal in der Lage, die Ukraine innerhalb von drei Jahren zu besiegen. Damit entfällt jedoch die historische Begründung für die NATO als Bollwerk gegen Russland, und die USA wenden sich folglich von „Europa“ ab.
Tatsächlich gibt es nicht das eine Europa, sondern viele einzelne Staaten mit ganz unterschiedlichen Interessen. Sie tun das, was Europa seit jeher kennzeichnet: Sie führen Kriege untereinander, verbünden sich und gehen wieder auseinander. Währenddessen werden sich die USA zunehmend auf Asien und auf ihre eigenen inneren Herausforderungen konzentrieren, denn auch dort ist die Bourgeoisie tief gespalten. Für Deutschland bedeutet das eine Rückkehr zu historischen Phasen, die bisher als überwunden galten. In der sich neu formierenden multipolaren Weltordnung wird es folglich auch innerhalb Europas eine Art Multipolarität geben.
Es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass hieraus ein dauerhaftes Gleichgewicht entsteht. Noch dazu, weil Europa nicht isoliert von der Welt ist. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler argumentiert beispielsweise in seinem Buch „Welt in Aufruhr“, dass auf weltweitem Maßstab ein Gleichgewicht von fünf Kräften (Pentarchie) entstehen könnte, welches seiner Meinung nach aus den USA, China, Indien, Russland und Europa bestehen werde. Die größte Schwachstelle ist jedoch unabhängig von der Frage der Anzahl der Akteure die Zusammenfassung Europas als ein Block, der ein geeintes Interesse hat.
Einen einheitlichen europäischen Block kann es nicht geben. Das von Münkler beschriebene Europa ließe sich eher durch die Interessen seines Hegemons definieren. Doch der aktuelle Hegemon Deutschland ist im freien Fall, weil die unipolare Weltordnung, auf die es sich gestützt hat, zerfällt, ohne einen strategischen Ausweg im Hinterkopf zu haben. Münkler spekuliert deshalb auf eine Pentarchie nicht nur auf Weltebene, sondern auch innerhalb Europas, bestehend aus Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien (den imperialistischen Staaten) sowie Polen. Dabei wird allerdings die Rolle Großbritanniens unterbewertet und die Spaniens überbewertet. Seit Anfang 2025 hat sich stattdessen eine „Group of 5“ formiert – die fünf stärksten Militärmächte Europas –, die sich bei der Rüstungspolitik abstimmen wollen: Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Polen und Italien. Zwar gibt es bereits verschiedene Kooperationen bei der Aufrüstung, doch eine gemeinsame Strategie fehlt bislang. Diese ist auch wegen der unterschiedlichen Interessen schwer umzusetzen, da jedes Land eigene Schwerpunkte hat – etwa Landstreitkräfte, Atomwaffen oder Marine. Eine zentrale Frage bleibt zudem, ob man schneller Waffen von den USA kauft oder langfristig gemeinsam europäische Verteidigungssysteme entwickelt.
Deutschland bleibt trotz großer wirtschaftlicher Krise weiterhin die wirtschaftliche Nummer eins in Europa – und das mit großem Abstand. Militärisch sind die Atommächte Frankreich und das Vereinigte Königreich am stärksten. Direkt danach folgt Polen, das die größte Landstreitkraft Europas besitzt. Wie zu erwarten, intensiviert Merz deshalb die Zusammenarbeit nicht nur mit Frankreich, sondern auch mit Polen als Bollwerk nach Osten, während Großbritannien als ausgleichende Macht bestehen bleibt. Auch in Polen formiert sich eine neue Regierung, die ihr Verhältnis zu Deutschland suchen wird.
Eine Herausforderung in den Beziehungen zu den Nachbarn werden auch die von der Merz-Regierung eingeführten Grenzkontrollen sein, die vermutlich europäischem Recht widersprechen. Indem Deutschland nationale Interessen in den Vordergrund stellt, nimmt es Belastungen mit seinen Nachbarn in Kauf.
Merz hat bereits angekündigt, die Bundeswehr zur größten konventionellen Streitmacht Europas aufzurüsten, was das Verhältnis zu den Nachbarn herausfordern wird. Wadephul schloss sich sogar der Forderung nach 5 Prozent des BIP für das Militär an – eine Perspektive, die Boris Pistorius unterstrich mit der Formel 3,5 Prozent direkt für die Armee plus 1,5 Prozent für militärbezogene Infrastruktur (Bahnstrecken, panzertaugliche Brücken, erweiterte Häfen). Als Zielmarke nennt er diese Aufrüstung bis 2032.
Gaza ist ein weiteres internationales Problem für Deutschland, da die „Staatsräson“ sich innen- und außenpolitisch an den Zionismus bindet. Die Bedeutung der Frage für die neue Regierung drückte Wadephuls erste Reise aus, die ihn nach Israel führte. Gegenüber seiner Vorgängerin Baerbock, die zumindest noch einen humanitären Diskurs führte, wollen Merz und Wadephul noch radikaler die bedingungslose Unterstützung Israels durchziehen. Deutschland bleibt damit deutlich unkritischer gegenüber Israel als andere europäische Staaten. So nannte Macron etwa das Vorgehen Israels in Gaza eine Schande und drohte infolge der Hungersnöte und der neuen Offensive gemeinsam mit Starmer (UK) und Carney (Kanada) Sanktionen an. Die Drohung der Beendigung des Assoziierungabkommens vonseiten der EU gegenüber Israel führt nicht nur zu einer stärkeren geopolitischen Isolation Israels, sondern drückt ebenso die Schwäche Deutschlands aus, dessen Opposition zu diesem Schritt eine Minderheitsposition darstellt.
In diese Richtung deutet auch Merz‘ erneute Ankündigung, Netanjahu trotz internationalem Haftbefehl einen Besuch in Deutschland zu ermöglichen. Während die Regierung sich weiterhin treu hinter den Zionismus stellt, öffnet das aber auch Widersprüche im erweiterten Staat. Die Zionistin Luisa Neubauer klagt jetzt etwa über das Leid in Gaza. Die Regierung kann vor den Augen der Massen mehr mit den Verbrechen des Zionismus verbunden werden. Das ist wichtig, weil hier der deutsche Imperialismus, der sonst oft unsichtbar gemacht wird, deutlicher zutage tritt und ein Feindbild für einen Teil der Jugend wird.
„Die Aufgaben, die die deutsche Aussenpolitik erwarten, sind herkulisch“, so der Schweizer Tagesanzeiger. Wenig deutet darauf hin, dass Merz und sein Personal dieser Herausforderung gewachsen sein könnten. Das liegt jedoch weniger in ihrer eigenen Unzulänglichkeit, als vielmehr in den schwierigen Grundlagen in der Wirtschafts- und der Innenpolitik. So urteilte man beim britischen Economist in der Ausgabe vom 10. Mai über Merz‘ globale Ambitionen skeptisch: „[H]is power sits on rocky foundations.“
2. Die Regierungskrise schwelt weiter
Im Juni 2023 hatten wir die politische Situation folgendermaßen definiert:
Die fragile wirtschaftliche Situation, die relative Schwäche der Regierung und das allmähliche Erwachen der Arbeiter:innenklasse deuten auf schärfere Krisen und Klassenkämpfe in den kommenden Jahren hin. Es ist zu früh, von einer voll heranreifenden organischen Krise zu sprechen, aber wir sehen einzelne Elemente, die sich verdichten, und insbesondere durch äußere Schocks sprunghaft vertiefen können (Krisen der EU, Finanzcrashs, Wendungen im Krieg, neue Konfliktherde an der europäischen Peripherie, Spannungen zwischen USA und China). Die Konjunktur kann Auf- und Abschwünge des Klassenkampfes haben; eine Rückkehr zur vorherigen Etappe der (relativ) ‚friedlichen‘ Globalisierung ist jedoch unmöglich, und entsprechend ebenso eine Rückkehr zur ‚relativen Stabilität‘ der Merkel-Jahre. Wir befinden uns also in einer Übergangssituation hin zu einer Situation mit Elementen einer organischen Krise.
Einige Aspekte daraus scheinen sich uns zu bestätigen und zu vertiefen, besonders die Frage der äußeren Schocks mit Gaza und Trump sowie der wirtschaftlichen Krise. Ihre vorerst schärfste Zuspitzung nahm die Krise von oben mit dem Zusammenbruch der Ampel-Regierung durch die Sabotage der FDP an.
Zentraler Auslöser der Regierungskrise waren die Haushalts-Streitigkeiten. Letztlich stand die Ampel zu keinem Zeitpunkt auf einer gesicherten Finanzierung, wusste weder in der Wirtschaftspolitik, noch in Sachen der Aufrüstung Initiative zu ergreifen. Von der Union wurde ihr jede Unterstützung genüsslich verwehrt, stets mit dem letztlich erfolgreichen Ziel, die Ampel zu Fall zu bringen. Der Preis dafür war hoch – eine Regierungskrise, die mit der Neuwahl und der Bildung der schwarz-roten Koalition nur oberflächlich entschärft werden konnte. Dass der halbe Koalitionsvertrag unter Finanzierungsvorbehalt steht, zeigt eindrücklich, wie ungelöst der zentrale Streitpunkt der Ampel bleibt.
Nach wie vor sind die wirtschaftlichen Aussichten schwach, was die Grundlage für die Krise der Ampel darstellte. Merz will hier mit den Investitionspaketen sowie verbesserten Bedingungen für Unternehmen gegensteuern. Doch es bleibt abzuwarten, inwieweit dies tatsächlich eine Kehrtwende aus der Rezession darstellt.
Besonders die Investitionspakete wie der 500 Milliarden-Infrastrukturfonds wie auch die theoretisch unbegrenzten Mittel für Aufrüstung können belebende Elemente sein, die auch die Sozialpartnerschaft stützen. Es werden scheibchenweise Angriffe auf die Bedingungen der Arbeiter:innenklasse kommen, aber die Hauptbefürworter einer radikalen Kürzungspolitik sind nach den Wahlen aus dem Bundestag geflogen (FDP), bzw. die Zusammenarbeit mit ihnen ist teils verbaut (AfD) – zumindest vorerst.
Der CDU/CSU (28,5 Prozent bei den Wahlen) bleibt also als Koalitionspartner der Hauptträger der Sozialpartnerschaft, die SPD, mit ihrem historisch schlechtesten Ergebnis von 16,4 Prozent. Wir haben es mit der kleinsten schwarz-roten Koalition aller Zeiten zu tun. Diese beiden Hauptstützen des Regime hätten bei den unter 60-Jährigen keine Mehrheit. Dass die Koalition überhaupt eine Mehrheit finden konnte, verdankt sie dem undemokratischen Wahlrecht, das 10 Millionen Migrant:innen von der Wahl ausschließt und das dafür gesorgt hat, dass FDP und BSW knapp an der 5-Prozent-Hürde scheiterten – das Bundesverfassungsgericht verweigert in einem autoritären Akt eine Neuauszählung der Stimmen, obwohl es nachweislich zu Unregelmäßigkeiten kam.
Anders als die Ampel, die sich zumindest zu Beginn ihrer Amtszeit als „Fortschrittskoalition“ nach den verschlafenen Merkel-Jahren bezeichnet hat, setzt Merz nicht auf einen demokratischen Mantel, sondern einzig auf die Schaffung von „Wohlstand“, wofür er die Losung ausgibt, dass die Leute wieder mehr arbeiten müssen. Die Ampel hatte sich noch eine Erneuerung der Wirtschaft vorgenommen, durch die Förderung neuer Technologien. Das brachte aber enorme Widersprüche, die die deutsche Bourgeoisie, unter Eindruck des Ukraine-Krieges, nicht bereit oder in der Lage war, auf sich zu nehmen. Entsprechend schrieben wir im Juni 2023:
Wir sehen eine Umstellung des sich in der Krise befindlichen neoliberalen Akkumulationsmodells, das auf fossilen Rohstoffen basiert, hin zu einem „grünen“ Kapitalismus (…). Dieses Projekt der Bourgeoisie stellt auch die soziale Frage neu: Wer soll dafür zahlen? Wie soll das Land in Zukunft aussehen? Für die Bestimmung einer organischen Krise reicht es nicht aus, von krisenhaften wirtschaftlichen oder politischen Elementen zu sprechen. Die organische Krise ist gegeben, wenn die Bourgeoisie nicht in der Lage ist, ihr Projekt in seiner Gesamtheit der Bevölkerung zu verkaufen und sich dies darin ausdrückt, dass klassenkämpferische Tendenzen zunehmen.
Nachdem die Ampel unter dem Sparzwang schon auf mehr neoliberale Mechanismen setzte (wie Steuererleichterungen für Unternehmen), ist Merz nun die Verkörperung des neoliberalen Politikstils. Gewisserweise kehrt er zum Mantra der 90er Jahre zurück, mit zentralen Säulen wie der Flexibilisierung der Arbeit und Steuersenkungen für Investitionen, in Kombination mit staatlichen Subventionsprogrammen – verstärkt durch die Milliardenpakete für Bundeswehr und Infrastruktur. Dies unterstreicht sein mit Ex-CEOs gespicktes Kabinett.
Merz hat eine „Wirtschaftswende“ angekündigt mit einer Agenda 2030. Die CDU versucht dies als die größte Wirtschaftsreform seit der Agenda 2010 unter Schröder zu verkaufen. Insbesondere sollen die Energiepreise für die Industrie unter fünf Cent pro Kilowattstunde gesenkt werden sowie 30 Prozent für Investitionen subventioniert werden. Bei zwei Kernthemen, die die Agenda 2010 ausmachten, Flexibilisierungen des Arbeitsmarktes und Schwächung der Sozialsysteme kündigt der Koalitionsvertrag bisher eher allgemeine Vorhaben an: Die Aufweichung des 8-Stunden-Tags sowie die Abschaffung des Bürgergeldes zugunsten einer Grundsicherung mit mehr Sanktionen.
Zumindest zum Beginn der Amtszeit wird die Regierung die Möglichkeit haben, sich zu beweisen. Es gibt einen Konsens der bürgerlichen Medien, eine Regierung in den ersten 100 Tagen nicht zu hart zu beurteilen, sondern ihr Zeit zum Arbeiten zu geben. Entsprechend dürfte auch in der Bevölkerung anfänglich eine abwartende Haltung bestehen, in der Hoffnung, dass Merz – trotz wenig Sympathien – Stabilität schaffen kann. Mittel- und langfristig sind die Widersprüche, die Merz erbt, aber keineswegs aus der Welt geschafft. Der Umstand, dass Merz erst im zweiten Wahlgang zum Kanzler gewählt wurde, zeugt davon, dass die Regierungskrise, die sich mit dem Zusammenbruch der Ampel-Regierung kristallisiert hat, noch nicht geschlossen wurde.
3. Das Regime steht vor der Herausforderung, die AfD gegen den Willen von Teilen der Massen zu integrieren
Zu den Widersprüchen zählt – in Kombination mit der geopolitischen und wirtschaftlichen Lage – eine sich vertiefende Hegemoniekrise. Wir beobachten zwar keine aktive Infragestellung des Regimes durch die Massen – die Palästinasolidarität, die der herrschenden Politik inhaltlich am kritischsten gegenübersteht, bleibt vorerst auf eine Avantgarde beschränkt. Aber die Massenmobilisierungen von Hunderttausenden, die sich im Januar/Februar gegen die Kooperation von CDU/CSU und AfD richteten, haben trotz ihrer zivilgesellschaftlichen Ausrichtung nachhaltig Einfluss auf die politische Situation genommen.
Nachdem die Union noch vor der Neuwahl eine Abstimmung im Bundestag mit der AfD durchführte, um das Recht auf Asyl nochmals deutlich zu beschneiden, mussten sie nach Großprotesten in einer zweiten Abstimmung zurückrudern. Die linkeren Teile der Massen hatten gezeigt, dass sie eine Integration der AfD ins Regime nicht hinnehmen, wenngleich die Union an der Regierung jetzt mit den Grenzkontrollen den Programmpunkt aus dem Januar in der Regierung umsetzt.
Nach den Protesten entwickelte sich eine Polarisierung, die das Ergebnis der Bundestagswahlen deutlich beeinflussen sollte. Hauptprofiteur war die Linkspartei, der es gelang, sich in diesem Moment von unter 5 Prozent in den Umfragen auf letztlich 8,8 Prozent zu steigern. Auf der anderen Seite zog die AfD mit fast 20,6 Prozent in den Bundestag ein. Diese Polarisierung stellt die Grundlage für ein Parlament dar, in dem die schwarz-rote Koalition mehr als frühere Regierungen gezwungen ist, Verbündete zu finden.
Die (unbekannten) Abweichler:innen bei der Kanzlerwahl haben gezeigt, dass die eigenen Reihen der Koalition nicht unbedingt geschlossen sind. Möglicherweise sind sie als Drohungen des „linken“ SPD-Flügels zu verstehen, der sich vom Parteivorsitzenden Lars Klingbeil übergangen fühlt oder Merz für seine Annäherung an die AfD im Januar misstraut. Jedenfalls kann eine in den Umfragen fallende SPD trotz allem Kadavergehorsam für Merz zum Problem werden, wenn es ihr nicht gelingt, ihre Rolle als gesellschaftliche Vermittlerin mit der Gewerkschaftsbürokratie zu spielen. Mit Klingbeil gab es bereits erste Irritationen, ob denn der Mindestlohn nun auf 15 Euro angehoben werden soll oder nicht, ebenso über die Frage, ob denn für die Grenzkontrollen eine Notlage ausgerufen wurde.
Die knappe Regierungsmehrheit macht es für schwarz-rot umso notwendiger, sich in Fragen von Verfassung und Geschäftsordnungen, die eine Zwei-Drittel-Mehrheit erfordern, mit Grünen und Linkspartei abzustimmen, wie bereits die Kanzlerwahl gezeigt hat. Beide haben gezeigt, dass sie willentlich Merz als treue Opposition zur Verfügung stehen. Die Linke versucht auf diesem Weg eine dauerhafte Zusammenarbeit mit Merz zu etablieren mit dem Vorsatz, die CDU/CSU im „demokratischen“ Lager zu halten, damit sie nicht mit der AfD zusammenarbeitet. Dies ist ein weiteres Resultat aus den großen Mobilisierungen des Winters: Die Spitze der Linkspartei nutzt die daraus gewonnene Basis, um in einer Volksfront-Logik eine Unterordnung unter das imperialistische Projekt zu begründen. Damit versucht sie, die Polarisierung nach links einzuhegen und ungefährlich zu machen.
Der Versuch von Linken, Grünen und SPD, die Union in eine „Brandmauer“ gegen die AfD einzubeziehen, ist aber zum Scheitern verurteilt. Zunächst einmal existierte diese Brandmauer nie. Neben Kooperationen auf kommunaler Ebene haben CDU/CSU und FDP zum Beispiel 2020 in Thüringen mit der Wahl Kämmerichs die Stimmen der AfD bewusst in Kauf genommen. Und inhaltlich gibt es in den Parteien des Regimes vom Kern bis an die Ränder eine Einigkeit in der Palästina-Position: Schon am 10. Oktober 2023 verabschiedete der Bundestag einstimmig (!), also mit Stimmen der Linken und der AfD, eine Resolution in Solidarität mit Israel. Die Verschärfung der Repression und der antimuslimische Rassismus bauen stark auf diesem Konsens auf, den es zwischen den Bundestags-Parteien in dieser Frage gibt.
Dennoch stellte der Vorstoß von Merz in der gemeinsamen Abstimmung mit der AfD ein Novum dar, insofern er erstmals versuchte, die direkte Zusammenarbeit auf Bundesebene zu normalisieren. Ein wesentlicher Umschwung in der Haltung zur AfD erfolgte, als sich Elon Musk im Winter öffentlich für sie aussprach. Damit demonstrierte die Partei nicht nur erneut ihre außenpolitische Käuflichkeit – zuvor hatten AfD-Abgeordnete bereits durch Verbindungen nach Russland und China für Skandale gesorgt –, sondern offenbarte zugleich, dass sich das deutsche Regime ihr kaum entgegenstellen kann, ohne die strategische Partnerschaft mit den USA zu gefährden. Der außenpolitische Druck sowie die bedeutende Stellung, die die AfD mit über 20 Prozent innehat, erfordern für das Regime eine Integration der AfD.
Bei den Konservativen ist dies ausgemachte Sache. Die Diskussion um die Beobachtung durch den „Verfassungsschutz“ (Geheimdienst) und die Forderung nach einem Verbotsverfahren durch den Reformismus dienen nicht dazu, die AfD tatsächlich zu bekämpfen, sondern dazu, Druck auszuüben, damit sie sich von ihren faschistischen Teilen distanziert. Die Posse darum, dass der Verfassungsschutz die AfD Anfang Mai zunächst als rechtsextrem einstufte und diese Einschätzung kurz darauf zurückzog, zeigt, dass es um den genauen Umgang mit der AfD Uneinigkeit im Regime gibt. Politiker:innen der Union sprachen sich explizit gegen eine Beobachtung aus und intensivierten die Rhetorik zur weiteren Normalisierung der AfD.
Der Union ist die strategische Öffnung zur AfD beschlossene Sache. Das bedeutet nicht sofort, sie in Regierungsbeteiligungen zu holen, sondern vorerst eher parlamentarische Zusammenarbeiten zu entwickeln und ihre Position in der Gesellschaft zu normalisieren, auch zur Überwindung der Hegemoniekrise. Besonders im Osten ist ohne die Integration der AfD kaum noch Politik zu machen.
Die Drohung, dass die Union perspektivisch mit der AfD zusammen (Landes-)Regierungen bilden könnte, stellt zudem ein adäquates Mittel dar, um den Reformismus unter Merz zu disziplinieren, und die Weichen für sehr viele härtere Angriffe zu stellen. Die AfD ist die Partei, die für radikale Kürzungen und kompromisslose Attacken auf die Linken und Arbeiter:innenklasse statt Rücksichtnahme auf die Sozialpartnerschaft steht. Das bedeutet nicht, dass Merz eine starke AfD will – sie ist für die Union eine unliebsame Konkurrenz. Aber ihre Integration wird den schwächelnden Konservativen die Möglichkeit bieten, eine viel rechtere Politik durchzuziehen und weniger Rücksicht auf die Sozialdemokratie zu nehmen.
Diese Perspektive einer verstärkten Zusammenarbeit von Konservativen und Rechten ist durch die Massenmobilisierungen des Winters vorerst blockiert. Die Wirtschaftskrise und die Schwäche des Regimes kann aber die Notwendigkeit dringlicher machen, sie durch eine autoritäre Wende zu lösen. Eine Tendenz zur Bonapartisierung wäre, wenn Merz versuchen würde, sich als starke Figur über die gewöhnliche parlamentarische Arbeit hinwegzusetzen: Dies könnte sich darin äußern, dass zwar formell die schwarz-rote Bundesregierung im Amt ist, sie aber in einer ständigen Spannungssituation mit der AfD stünde und zentrale Forderungen durchsetzen würde. Merz stünde als Schiedsrichter zwischen Reformismus und der harten Rechten in der Position des starken Staates, um durch autoritäre Maßnahmen im Interesse des Finanzkapitals beide Seiten zu disziplinieren und die Kraft des Regimes gegen die Arbeiter:innenklasse zu bündeln.
Merz weist bereits stärkere Tendenzen der Bonapartisierung auf als Scholz, der trotz wachsender Militarisierung den parlamentarischen Aushandlungsprozess immer zentral betonte. Im Gegensatz dazu veranlassten die dünnen Mehrheiten die neue Regierung schon vor ihrem Amtsantritt dazu, sich mit einem undemokratischen Manöver über eine Verfassungsänderung die Finanzierung der Aufrüstung und Infrastrukturprojekte zu sichern. Dazu schrieben wir:
Ihr Manöver, nochmals den alten Bundestag anzurufen, um ein letztes Mal eine Zwei-Drittel Mehrheit mit den Grünen zustande zu bekommen, hat ihr vorerst ein finanzielles Fundament gegeben. Aber es zeigt, auf welche Methoden sie sich einlassen muss, um ihre Ziele durchzusetzen. Sie gründet sich mit ihrem Manöver vorbei an den neuen Mehrheiten – ein autoritärer Akt, der nach dem finanzpolitischen Putsch der FDP gegen die Ampel einen nächsten Tiefpunkt des deutschen Parlamentarismus darstellt.
In ihren ersten Tagen bemüht sich die Merz-Regierung nicht gerade um die Wahrung eines möglichst demokratischen Eindrucks. Sogleich ging das Gerücht um, sie habe eine „Notlage“ veranlasst, um schärfere Grenzkontrollen durchzuführen. Danach gab es in Medien und der Regierung selbst viel Verwirrung, was das bedeutet. Wichtig ist aber, dass sie ein Manöver unternommen hat, mit dem sie wissentlich gegen womöglich geltendes Europarecht verstoßen hat. Das wird wohl erst Monate später juristisch feststehen, bis dahin werden aber Fakten geschaffen.
Ein weiterer Aspekt der neuen Linie besteht darin, dass Merz die Öffentlichkeit nicht länger über Waffenlieferungen an die Ukraine informieren will. Dadurch soll Russland weniger Klarheit auf dem Schlachtfeld haben. Es bedeutet aber auch, dass die kontrovers geführten Debatten, etwa über die Lieferung von Taurus-Raketen, nicht mehr öffentlich geführt werden, der Bundestag wird nur noch in geheimer Sitzung des Verteidigungsausschusses informiert.
Diese Elemente für sich genommen bedeuten noch keine umfängliche Bonapartisierung, in dem Sinne, dass sich die Regierung über die bestehenden gesellschaftlichen Kräfte hinwegsetzen würde. Der Bundestag wird auch weiterhin eine (wenn auch verzerrte) Darstellung der bürgerlichen Sektoren sowie von Vermittlungsinstanzen darstellen, die die Regierung nicht einfach überspringen kann – anders als etwa der französische Präsident mit seiner Möglichkeit, Gesetze per Dekret ohne Parlament zu verabschieden (Verfassungs-Paragraph 49.3).
Ebenso spielt der starke Föderalismus mit der Repräsentation der Landesregierungen im Bundesrat eine „ausgleichende“ Rolle im Sinne dessen, dass verschiedene Interessen austariert werden müssen. Dies hat es nötig und auch leichter möglich gemacht, die Linkspartei in die Politik der Regierung hineinzuziehen. Mit dem Argument der Infrastrukturgelder ließen sich die Landesregierungen in Bremen und Mecklenburg-Vorpommern für die Aufrüstungskredite gewinnen. In diesem Sinne kann die unterwürfige Haltung der Linkspartei dazu beitragen, Merz die Umsetzung seiner Vorhaben vorerst zu erleichtern. Ihre Chance, ihm einen zweiten Wahlgang zu verweigern und damit eine ernstere Regierungskrise herbeizuführen, nutzte sie nicht.
Der bremsende Faktor für eine schnellere Bonapartisierung ist aber nicht das parlamentarische Spiel, sondern die Intervention der Massen. Die Mobilisierungen vom Januar/Februar und der Aufstieg der Linkspartei waren eine Warnung an die Union, ihr Blatt nicht zu überreizen. Exemplarisch zeigt sich das in den Äußerungen des CDU-Generalsekretärs Carsten Linnemann, bekannt als ultra-rechter Hardliner, der kürzlich die Zusammenarbeit von Union und AfD im Januar kritisierte. Diese habe nur das linke Lager mobilisiert und gestärkt. Seine Haltung zeigt an, dass es in der Union durchaus Zweifel gibt, wie schnell und offensiv die Rechtsverschiebung stattfinden kann.
Gleichzeitig gibt es natürlich auch rechte Stimmungen in den Massen, die die Integration der AfD fordern, neben deren Anhängerschaft selbst auch große Teile der Basis der Union und des BSW. Im Gegensatz zu den Mobilisierungen der Hunderttausenden äußern sich diese Stimmungen aber nicht in rechten Massenaktionen auf der Straße – die Bourgeoisie ist heute nicht bereit, diese Geister zu rufen. Die faschistischen Banden werden mithilfe der Geheimdienste- und Sicherheitsapparate gefüttert. Eine Existenz auf Massenebene, will ihnen die Großbourgeoisie heute nicht zugestehen. Gleichzeitig kann es Phänomene mit Eigendynamik geben, etwa von faschistisch gesinnten Jugendlichen, die wie letztes Jahr Pride-Paraden angriffen.
Die Mittel der Wahl des Regimes gegen Linke und die Palästina-Solidarität werden aber weiter Gerichte und Polizeiknüppel sein. Merz kann sich dabei auf die Vorarbeit der Ampel stützen, die ihm Ansätze eines verhärteten Staates hinterlassen haben. Dazu zählt insbesondere die Kriminalisierung der Palästina-Bewegung, in der sich die „demokratischen“ Vertreter:innen des Staates mit Lügen, absurden Diffamierungen, Kriminalisierungen und Polizeigewalt nicht zurückhalten, um die deutsche Staatsräson bezüglich Israel durchzusetzen und die Ansätze jeder antiimperialistischen Bewegung zu isolieren.
Die Militarisierung kennzeichnet sich durch ihren Umfang und ihre Tiefe. Sie findet nicht auf rein militärischem Gebiet statt, sondern in allen Bereichen des Staates und der Zivilgesellschaft und auch in allen Lebensbereichen der Massen und natürlich in allen ideologischen Bereichen. In diesem Prozess werden die Regierung, die Polizei, das Militär und sämtliche gewaltsamen und „bonapartistischeren“ Elemente des Staates stärker betont, die lange Zeit in der BRD nicht so stark ausgeprägt waren.
Vorerst bemühen sich SPD und Linkspartei, ein soziales Korrektiv zur Union zu sein. Trotz aller Anpassung an die Interessen der Bourgeoisie könnten sie damit weiterhin ein Hindernis darstellen – vor allem dann, wenn die Union die Sozialpartnerschaft noch entschiedener von oben herab angreifen will. Merz wird sich nicht dauerhaft darauf verlassen wollen, dass eine in sich widersprüchliche Linkspartei ihm dauerhaft Zwei-Drittel-Mehrheiten besorgt. Ja selbst die SPD kann, wenn sie sich als Juniorpartner in der Regierung abnutzt, zu einem Unsicherheitsfaktor werden. Für Merz stellt sich also die Frage, wie er sich mehr Handlungsspielraum verschaffen kann, inwieweit er versucht, die SPD zu übervorteilen und Linke und Grüne auszustechen, immer mit der Drohung in der Hinterhand, auf die AfD zuzugehen. Die selbstständige Aktion der Massen, die im Januar und Februar aufblitzte und vom Reformismus heruntergekocht wurde, stellt für die Integration der AfD ins Regime ein relatives Hindernis dar. Es zu überwinden, wird neue bonapartistische Sprünge erfordern, mit der Verhärtung des Grenzregimes, der Militarisierung und autoritären Maßnahmen.
4. Der Kampf um die Ausrichtung der (radikalen) Linken ist offen
Mit dem Zusammenbruch der Ampel hat sich im Winter eine Phase asymmetrischer Polarisierung eröffnet: Einerseits wurde die AfD schrittweise zur stärksten Kraft und treibt die neue Bundesregierung insbesondere in der Migrationspolitik weiter vor sich her. Andererseits kam es zunächst zu einer gewissen Polarisierung nach links – mit Massendemonstrationen gegen die extreme Rechte und einem Aufschwung der Linkspartei bei Wahlen.
Die Frage, wie weit sich die Hegemoniekrise des etablierten Systems vertieft, und damit auch die Tendenzen der organischen Krise, hängt unter anderem damit zusammen, inwieweit es den reformistischen Apparaten gelingt, die linke Polarisierung zu kanalisieren. Mittels der Kraft ihres Apparates, ihrer Medien und der Schwäche der radikalen Linken hat die Linkspartei hier einen zeitlichen Vorsprung im „Wettrennen“ um die Köpfe.
Gleichzeitig öffnet der unbedingte Wille ihrer Führung, sich vollständig in das imperialistische Regime zu integrieren und eine souveränistische Perspektive für die Zukunft Europas zu formulieren, den Raum für Unzufriedenheit an den linken Rändern. Trotz mancher konjunkutureller Flauten und Höhepunkten dürften sich die Tendenzen einer linken Polarisierung in den nächsten Jahren eher vertiefen als abmildern. Zugleich finden ideologische und politische Auseinandersetzungen um die Ausrichtung der linken Ränder von Reformismus und Linksradikalismus statt – Kämpfe, deren Ausgang entscheidend sein wird für die Hoffnungen oder Enttäuschungen jener Menschen, die sich heute politisch nach links orientieren.
Nachdem die Partei Die Linke noch vor einem halben Jahr praktisch totgesagt worden war, feierte sie sich bei ihrem Chemnitzer Parteitag am 9. und 10. Mai für ihren Wiederaufstieg. Sie erreichte 8,8 Prozent bei der Bundestagswahl im Februar, und seitdem konstant um die zehn Prozent bei Umfragen, 50.000 neue Mitglieder und eine Aura der „Erneuerung“. Dazu hat auch der Leitantrag zum Parteitag beigetragen, der als „zentrale Aufgabe“ beschreibt, „sich in der Arbeiter*innenklasse zu verwurzeln“. Die Linkspartei müsse „eine organisierende Klassenpartei werden“ und sich „als sozialistische Mitgliederpartei weiterentwickeln“.
Der Parteitag hat tatsächlich auch eine Reihe relativ progressiver Anträge beschlossen, mit Positionen gegen Militarismus und Wehrpflicht und mit der Übernahme der „Jerusalemer Erklärung“ (JDA) als Antisemitismusdefinition, was von palästinasolidarischen Sektoren schon seit Langem gefordert wurde. Ein Antrag, der die Linkspartei-Minister:innen aus Bremen und Mecklenburg-Vorpommern nach deren Zustimmung zur Aufrüstung im Bundesrat zum Rücktritt aufforderte, scheiterte nur knapp nach der Intervention von Ines Schwerdtner. Diese Elemente sorgen dafür, dass der linke Parteiflügel und darin arbeitende Organisationen den Parteitag als Erfolg feiern. Die SAV ist gar der Meinung, der Parteitag habe die Linkspartei „als klassenkämpferische und antikapitalistische Kraft positioniert“. Die Sol ist gegenüber dem Parteitag kritischer, aber sie betont zugleich, dass die 50.000 Neumitglieder unter den Delegierten noch nicht repräsentiert waren, weshalb künftige Parteitage anders ablaufen könnten. Zugleich sind die Widersprüche in der Partei unübersehbar, wie wir an dieser Stelle schrieben.
Bedeutender als die Parteitagsdebatten selbst – die vom Parteivorstand im Zweifelsfall ignoriert, wie schon mehrfach in der Vergangenheit – war das, was rund um den Parteitag geschah: Im Wahlkampf hatte die Linkspartei, abgesehen von wenigen Ausnahmen, die Themen Krieg, Genozid und Rassismus weitgehend ausgeklammert.
Nur wenige Tage vor dem Parteitag ermöglichte die Linksfraktion im Bundestag zudem einen zweiten Wahlgang, in dem Merz zum Kanzler gewählt wurde, nachdem er in der ersten Runde gescheitert war. Als ob dieser Dienst an der Regierungsstabilität nicht genug gewesen wäre, beschloss der Parteivorstand nur einen Tag vor dem Parteitag noch eine grundsätzliche Solidarisierung mit dem Staat Israel. Für die Parteiführung ist zentral, als Teil des Lagers der „demokratischen Parteien“ (im Gegensatz zur AfD) gesehen zu werden, was letztlich dazu führt, ein Bündnis der „nationalen Einheit“ zur Regierbarkeit selbst mit dem neuen Rechtsaußen-Kanzler Merz zu schmieden.
In unserem Magazinartikel „Die ‚Erneuerung‘ der Linkspartei und das Gespenst der Sozialdemokratie“ schrieben wir, „[s]o ergibt sich ein völlig anderes Bild der ‚erneuerten‘ Linkspartei, nämlich nicht als Abkehr von der bisherigen Strategie, das linke Feigenblatt der Regierbarkeit des immer instabileren BRD-Regimes zu sein, sondern gerade als Vertiefung der Sozialdemokratisierung der Partei und damit als Abschluss ihrer Integration in das Regime.“ Diese These stützen auch linksreformistische Beobachter:innen wie Sebastian Friedrich, der davon schreibt, dass „Die Linke sich, allen sozialpopulistischen Tönen zum Trotz, in die Mitte zu bewegen scheint“, oder bürgerliche Kommentator:innen wie ZEIT-Politikredakteurin Mariam Lau im Podcast von Anne Will: „[Die Linke] sind Leute, die wollen, dass der Laden nicht auseinanderfliegt“.
Wie passen diese widersprüchlichen Tendenzen zusammen? Möglicherweise erleben wir aktuell die Wiederkehr der langjährigen These, dass es sich bei der Linkspartei um „zwei Parteien in einer“ handle. Tatsächlich drückt sich beispielsweise in der nur knapp gescheiterten Rücktrittsforderung an die Minister:innen aus Bremen und Mecklenburg-Vorpommern aus, dass es in der Linkspartei einen Sektor gibt, der die immer weiter voranschreitende Aufwertung der Partei im Regime nicht ohne Weiteres gutheißt, ebenso wie in einem Teil der zehntausenden Neumitglieder, während ein anderer Teil dieser Neumitglieder eher aus dem Spektrum der Grünen oder der SPD kommt. Ein linker Rand dieses Phänomens, insbesondere in der Jugend, ist die Überzeugung, dass man eine Politik im Interesse der Arbeiter:innenklasse verfolgen muss. Ausdruck davon ist, dass Die Linke und der SDS vermehrt Kampagnen mit Streikbezug, etwa „Wir fahren Zusammen“, lancieren. In verzerrter und institutionalisierter Weise drückt sich in der Linken-Basis eine gewisse gesellschaftliche Polarisierung nach links aus, im Gegensatz zum sonst beschworenen Rechtsruck.
Aber gerade deshalb ist die explizite oder implizite These, dass die Linkspartei „zwei Parteien in einer“ sei, in der der linke Parteiflügel die Parteispitze vor sich hertreiben könnte, sehr gefährlich – ebenso die alternative Deutung, dass man die Linkspartei einfach teilweise nutzen könnte, während man auch am Parteivorstand vorbei antikapitalistische Politik machen könnte, wie es Ferat Koçak verkörpert oder auch in der Haltung der Interventionistischen Linken zur Linkspartei immer wieder zum Ausdruck kommt. Der Chemnitzer Parteitag hat gezeigt, dass dort zwar teilweise sehr progressive Anträge beschlossen wurden, der Parteivorstand jedoch weiter tut, was er will, und tatsächliche Konsequenzen für Kriegstreiber wie die „Regierungssozialist:innen“ aus Bremen und Mecklenburg-Vorpommern ausbleiben.
Der linke Flügel konnte sich in Chemnitz in gewissem Maß behaupten: Er hat sich das Recht erkämpft, überhaupt linke Positionen zu Palästina äußern zu dürfen. Inhaltlich blieb er dabei jedoch im Rahmen des Parteikurses und schaffte es nicht, das Statement des Parteivorstands grundsätzlich infrage zu stellen. Die Jerusalemer Definition gegen Antisemitismus allein stellt die Position der Existenzberechtigung Israels nicht in Frage. Der linke Flügel hat also ein Stück Meinungsfreiheit gewonnen – ohne dass die regimetreue Parteiführung dadurch eingeschränkt worden wäre. Das schafft neue Spielräume zur Vermittlung, nährt jedoch auch falsche Hoffnungen auf eine stärkere Integration des linken Flügels, während die Parteispitze gleichzeitig die Anerkennung durch die Union sucht.
Der linke Flügel fungiert als integratives Element für die Partei und letztlich – ob bewusst oder ungewollt – als Stütze für den Parteivorstand. Dadurch wird ein kritisches Milieu an die Partei gebunden, was zugleich die Herausbildung einer unabhängigen Alternative behindert. Der weitere Weg der Linkspartei ist keineswegs vorgezeichnet. Abhängig von den großen politischen Entwicklungen und möglichen neuen Klassenkämpfen können sich die Widersprüche zum Anpassungskurs an Merz vertiefen und kritische Phänomene entstehen. Dies gilt nicht nur für die Linkspartei selbst, sondern auch für die radikale Linke.
5. Klassenkampf: Noch kein „Sturm“ – aber Möglichkeiten für einen Aufschwung der Arbeiter:innenbewegung
Heute ist die deutsche Industrie in einer ihrer tiefsten Krisen der neuesten Geschichte. Sie versucht diese Krise unter anderem mit einer stärkeren Militarisierung zu lösen, etwa bei VW. Rheinmetall hat eine größere Bedeutung für die Wirtschaft gewonnen. Die Strukturkrise, besonders in der Automobilkrise, kann damit aber nicht aufgehoben werden.
Der Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel ist ein weiterer wichtiger Widerspruch in Deutschland unserer Zeit: Für die Bourgeoisie stellt dies inzwischen ein Problem dar, was sich an den ebenfalls widersprüchlichen kapitalistischen Haltungen zur Migration zeigt. Für die Arbeiter:innenklasse stellt der Arbeitskräftebedarf eigentlich eine objektiv vorteilhafte Lage – im Gegensatz zur Arbeitslosigkeit – im Kräftegleichgewicht dar. Durch die Individualisierung der Verhandlung und die ständige sozialpartnerschaftliche Zähmung durch die Bürokratie kann dieser Vorteil aber kaum zur Geltung gebracht werden, sondern zumeist wird die Arbeitszeit eher intensiviert und der Mangel auf Kosten der Arbeiter:innen verwaltet.
Zuletzt sahen wir dies bei der Tarifrunde im öffentlichen Dienst, bei der die Bürokratie der ver.di nichts unternahm, um über die routinistische Dynamik früherer Tarifrunden hinauszugehen. Das Ergebnis war ein schwacher Abschluss für die 2,5 Millionen Beschäftigte, mit mäßigen Lohnzuwächsen, einer potenziellen Erhöhung der Arbeitsstunden und einer Laufzeit von 27 Monaten, was diese wichtigen Sektoren für längere Zeit handlungsunfähig machen soll (siehe hier unser Bericht zum Abschluss). Den Umstand, dass die Streikrunde mit den Bundestagswahlen zusammenfiel, nutzte die Bürokratie nicht, um den Druck zu erhöhen, sondern eher noch als Grund, nicht zu offensiv aufzutreten, in der Logik, die Stabilität nicht zu gefährden. Eine Verbindung zu den Mobilisierungen gegen die AfD gab es ebensowenig wie eine umfangreichere Thematisierung der Aufrüstung, wenn auch mit einzelnen Ausnahmen etwa von kämpferischen Gewerkschaftsjugenden.
Die Logik der Bürokratie blieb aber in einer sehr starken Trennung der ökonomischen und politischen Sphäre. Auch die Aufrüstung wurde, wenn dann aus einer ökonomistischen Logik kritisiert, in dem Sinne, dass auch genug Geld für Soziales herausspringen sollte. Wenig verwunderlich lobte DGB-Chefin Fahimi den Koalitionsvertrag und die Infrastrukturkredite, obwohl diese ja an die Aufrüstungskredite gekoppelt sind.
Die Positionen aus der Führung der IG Metall sind teilweise noch rechter, bis hin zur offenen Befürwortung der Aufrüstung zur Sicherung von Arbeitsplätzen und der Verteidigungsfähigkeit Deutschlands. Diese Unterordnung unter den deutschen Imperialismus zeigt sich auch in ihrer Industriepolitik, wo sie etwa bei VW im vergangenen Jahr einen fürchterlichen „Kompromiss“ abgeschlossen hat, bei der sie dem Abbau von 35.000 Stellen über die nächsten Jahre zustimmte. Es ist bezeichnend, dass die IG Metall Führung nicht mal willens war, in Deutschlands wichtigstem Konzern auf einen Frontalangriff adäquat zu reagieren, ein Konzern, in dem sich die Sozialpartnerschaft wie in keinem anderen Unternehmen in höchster Form verkörpert. Sie beließ es bei einzelnen – durchaus beeindruckenden, aber dennoch vollkommen isolierten – Streiktagen, statt einen Kampfplan aufzustellen mit einem Programm, das die Bosse zahlen lässt.
Die beiden Beispiele aus dem öffentlichen Dienst und der Autoindustrie zeigen die extreme Unterordnung der Gewerkschaftsführungen unter den deutschen Imperialismus. Was sind die Gegentendenzen von klassenkämpferischen Phänomenen?
Es haben sich schon in den letzten Jahren immer wieder einzelne Kämpfe als Leuchttürme im Klassenkampf gezeigt, die sich von den bürokratisch dominierten Tarifrunden abgehoben haben, wenngleich sie aufgrund ihrere Vereinzelung die Bürokratie natürlich nicht überwinden konnten. Zu ihnen zählen die langen Kämpfe der Amazon-Beschäftigten; der Verteidigungskampf bei Voith gegen die Werksschließung 2020; die Krankenhausbewegungen in Berlin und NRW 2021/22; in prekären Sektoren wie dem Lieferdienst Gorillas 2022; die Streiks bei Riesa Nudeln für die Angleichung der Gehälter an den Westen 2022; die Hafen-Tarifrunde 2023 gegen die Auswirkungen der Inflation; die kämpferischen Bahn-Streiks der GDL; die streikenden Berliner Lehrerinnen 2024 mit demokratischen Versammlungen, wo wir mit unserer Genossin Inés Heider eine Rolle spielten; außerdem Streiks an den Flughäfen; Streiks im Sozial- und Erziehungswesen; bei der Post; der viermonatige Streik bei einer Recyling-Firma in Espenhain bei Leipzig 2024, die Berliner Nahverkehr-Beschäftigten als kämpferischster Teil der TVöD-Runde 2025; der Kampf beim Autozulieferer Brose Würzburg, der erfolgreich die Schließung des Werks abgewehrt hat; und natürlich der Streik der sehr migrantisch und weiblichen Belegschaft der Reiniger:innen der CFM, die einen sehr fortschrittlichen Kampf für einen Tarifvertrag führten.
Die Beispiele zeigen, dass es nicht an widerständigen Phänomenen mangelt, aber sehr wohl an antibürokratischen Kräften, die diese Phänomene gegen den Willen der Bürokratie verbinden könnten. Aber nicht nur auf die Verbindung von Teilkämpfen, sondern durch ein Programm, das einen hegemonialen Charakter für die ganze Klasse und die Unterdrückten ausdrücken könnte. Ansätze dafür gab es durchaus, etwa das Bewusstsein der Hafen-Arbeiter:innen, nicht nur für sich zu kämpfen, sondern eine Vorreiterrolle im Kampf gegen die Inflation insgesamt einzunehmen. Oder in den Berufen des Sozialen, der Bildung und Gesundheit, die ihre gesellschaftliche Rolle betonen.
Das weitgehende Fehlen von antibürokratischen Kräften ist nicht zuerst eine Frage davon, kritisch gegenüber den Gewerkschaftsführungen zu sein. Sondern eine Frage des politischen Programms und der Strategie. Denn die Gewerkschaftsführungen sind nicht einfach unpolitische Apparate, sondern sie sind angeführt von Funktionären insbesondere aus der SPD und der Linkspartei. Sie verhindern aktiv die Verbindung von Streiks mit sozialen und demokratischen Bewegungen, etwa indem sie die Kriminalisierung gegen die Palästina-Bewegung mittragen. Ihre Strategie ist darauf ausgerichtet, die Arbeiter:innenklasse unter den Imperialismus unterzuordnen. Sie sagen, dass kämpfende Arbeiter:innen sich durch Berufspolitiker:innen und Funktionär:innen vertreten lassen sollen, mit dem illusorischen Versprechen, dann in den Institutionen deren Interessen durchzusetzen.
Ein Teil der jüngeren Generationen, besonders Frauen, Migrant:innen, Beschäftigte aus den reproduktiven Berufen, bewegt sich nach links, offen für palästina-solidarische und feministische Positionen. Die bisher noch relativ kleine Avantgarde der Palästina-Bewegung hat das Potenzial, die verkrusteten gewerkschaftlichen Strukturen zu erschüttern, wenn es ihr gelingt, sich mit den fortschrittlichsten Abwehrkämpfen der Beschäftigten zu verbinden und den Ökonomismus und Routinismus der Bürokratien zu konfrontieren.
Die Selbstorganisation in den Betrieben und die Bildung von Einheitsfronten mit den Organisationen der Linken und den Apparaten aus Gewerkschaften und Linkspartei zur Abwehr der reaktionärsten Maßnahmen von Merz, ist heute eine zentrale Aufgabe der Arbeiter:innenbewegung. Dafür ist die Unterstützung der Jugend erforderlich, die mit ihrer Ablehnung der imperialistischen Politik eine Dynamisierung der Situation schaffen kann.
Angriffe auf Beschäftigungsverhältnisse und Schließungen werden immer wieder vereinzelte Abwehrkämpfe hervorrufen, sei es bei Autozulieferern oder im Gesundheitswesen. Es gibt keinen Automatismus, dass sich diese Kämpfe ausweiten und aus ihrer Isolierung kommen. Aber die politische Situation schafft mehr Möglichkeiten für Interventionen und für selbstständige Initiativen der Arbeiter:innen mit Versammlungen und Einheitsfronten.
Wir erwarten noch keinen „Sturm“, eine explosive Revolte, wie wir sie in Frankreich mit harten Klassenkämpfen oder in den USA mit Black Lives Matter gesehen haben. Dafür ist die Kontrolle der Bürokratien weiter zu fest und der Einfluss des „erweiterten“ Staates, der Zivilgesellschaft, zu umfangreich. Trotz einer anfänglichen Polarisierung von Teilen der Gesellschaft nach links, ist die Stimmung unter größeren Teilen der Massen eher rechts geprägt. Wir haben es aber mit einer vielschichtigen politischen Situation zu tun, die weder eindeutig reaktionär ist, noch sich einfach nach links öffnen würde.
Auf Ebene der Massen kann es daher auch zu sehr widersprüchlichen Phänomenen kommen, die diffus rechte und linke Ideen aufgreifen und für das Regime schwer zu absorbieren sind. Resignation, Wut und Hoffnung existieren parallel und können sich durch die politischen Entwicklungen schnell abwechseln. Das dünne Fundament der Regierung macht es zudem jederzeit möglich, dass es spontane politische Phänomene insbesondere der Jugend gibt, die von Merz angeekelt ist. Ein Aufschwung der Arbeiter:innenbewegung ist damit wahrscheinlicher als Stagnation oder gar ein Rückgang. Gute Bedingungen für Revolutionär:innen.