Gegen den linken Ausverkauf: Sozialist:innen brauchen anständige Jobs

24.09.2022, Lesezeit 7 Min.
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Foto: Stokkete / shutterstock.com

Viele Linke arbeiten für reformistische Bürokratien — manche sogar direkt für den deutschen Imperialismus. Das ist kein Job wie jeder andere.

Als ich studiert habe, wurde ein Witz immer wieder in Richtung der linken Politik-Studis geschleudert: Sie sollten neben den Seminaren auch einen Taxischein machen, denn einen anderen Job würden sie eh nicht finden.

Wenn ich jetzt, mehr als ein Jahrzehnt später, die Leute mit ihren Politikwissenschaft-Abschlüssen anschaue, dann haben viele sehr gut bezahlte Stellen. Ihre radikale Vergangenheit war kein Karrierehindernis: heute arbeiten sie als Sekretär:innen bei den Gewerkschaftsbürokratien oder als Referent:innen bei Stiftungen. Nicht weniger sitzen in Bundestags-Büros.

Ein wichtiger Teil der linken Szene in Deutschland hat ihre soziale Basis in staatstragenden reformistischen Bürokratien. Organisationen wie die Interventionistische Linke oder Marx21 bestehen inzwischen zu einem guten Teil aus Angestellten des integralen Staates.

9 to 5 helfen sie, die Räder des deutschen Imperialismus am Laufen zu halten. In ihrer Freizeit wollen sie diesen Staat stürzen. Aber ist so ein politisches Doppelleben ein Widerspruch? Muss nicht jede:r Linke:r für irgendjemanden arbeiten?

Neulich lobte der Linkspartei-Jugendverband Solid die „feministische“ Außenpolitik Annalena Baerbocks — ein:e Bundessprecher:in bekam sogar Geld vom Auswärtigen Amt, um ein entsprechendes Paper zu formulieren. Jede:r ernsthafte:r Sozialist:in müsste bei einem solchen Ausverkauf an die  grüne Kriegshetzerin staunen. Doch nicht wenige wendeten auf Twitter ein: „Es ist doch nur ein Job!“

Und wenn das auch ein besonders perfides Beispiel der Korruption ist, ist es verständlich, dass viele Linke in Deutschland keine Diskussionen darüber aufkommen lassen wollen, wessen Brot sie essen und welches Lied sie singen.

Was man nicht sagen darf

Politische Jobs in staatstragenden Bürokratien sind keine normale Jobs. Denn auch wenn ein paar radikale Events am Wochenende erlaubt sind, legt man sich einen Maulkorb an, wenn es um Kritik an den eigenen Arbeitgeber:innen geht. Linke in diesen Jobs dürfen ihre Meinung nicht sagen — aber sie dürfen auch nicht sagen, dass sie ihre Meinung nicht sagen dürfen.

Eine der wenigen Personen, die in den letzten Jahren eine solche Stelle aufgab, war Tadzio Müller. Im Interview mit der taz gab er zu, wie eine solche Bürokratie eine permanente Zensur ausübt. Deswegen brauchte er materielle Unabhängigkeit: „Da kann es nicht sein, dass mich danach jemand anruft und sagt: Ey, mach mal diesen Tweet weg. So ist das aber eben in Organisationen, deshalb will ich auch gerade nicht woanders Referent oder Campaigner werden.“

Aber Müller ist eine absolute Ausnahme. Meistens glauben Menschen in dieser Position, dass sie nur den Mund halten müssen, um die Bürokratie nach links zu rücken. Währenddessen bekommen sie, wenn sie zum Beispiel als Hauptamtliche in den Gewerkschaften arbeiten, jeden Monat 5.000 Euro oder mehr. Und es ist nicht einfach, aus politischer Überzeugung auf ein solches Einkommen zu verzichten.

Früher wurden neue Bürokrat:innen aus den Reihen der Arbeiter:innenbewegung rekrutiert. Doch inzwischen geben Leute, die irgendwas studiert und nie einen Betrieb von innen gesehen haben, den Ton an. Während früher vermeintliche „Rote“ rigoros aus den Gewerkschaften ausgeschlossen wurden, wird der Nachwuchs jetzt unter studentischen Aktivist:innen gesucht. Die Vorstände von Jugendorganisationen wie den Jusos, der Grünen Jugend und [‘solid] sind die Kaderschmieden, in denen diese dann letztendlich zu Jobs in der hauptamtlichen Bürokratie ausgebildet wird. Wer einen solchen Posten annimmt, darf noch hier und da noch ein paar nette Worte über „Organizing“ sagen. Aber in den streng bürokratisierten Gewerkschaften wird ganz oben entschieden, wann ein Arbeitskampf mit einem faulen Kompromiss beendet wird. Es sind dann die Sekretär:innen – so „links“ sie auch in ihrer Freizeit sein mögen – die diese Direktive umzusetzen haben.

Anständige Jobs

Es ist sehr fortschrittlich, wenn Aktivist:innen aus einem studentischen Background sich der Arbeiter:Innenbewegung annähern wollen. Aber „Organizer:in“ sein zu wollen – in anderer Worten: prekarisierter Gig-Worker der Bürokratie – ist der absolut falsche Ansatz. Denn solche „Organizer:innen“ haben keinerlei Möglichkeit, die bremsende und sabotierende Rolle der Gewerkschaftsführungen zu kritisieren.

Ein prägnantes Beispiel liefert die Gruppe Marx21. Noch vor gar nicht so vielen Jahren forderte diese Gruppe einen permanenten Kampf gegen die Bürokratien der Arbeiter:innenbewegung. Seitdem etliche Mitglieder ihren Lebensunterhalt von diesen Bürokratien erhalten, darf Marx21 nur noch sanfte Kritik an bestimmten Entscheidungen des ver.di-Bundesvorstandes üben. Eine grundsätzliche Kritik an der Bürokratie wie früher ist restlos aus ihren Publikationen entfernt worden — klar, da stehen einfach zu viele Einkommen auf dem Spiel.

Aber es gibt eine Alternative. Wer als Linker an der Organisierung von Krankenhaus-Arbeiter:innen mitwirken will – und das ist eine essentielle Sache – kann etliche Jobs finden: in Krankenhäusern. Offene Stellen gibt es auch bei Nahverkehrsbetrieben, in Fabriken, in Hotels, in Schulen… Und Arbeiter:innen haben die Möglichkeit, sich unabhängig von den Kapitalist:innen, ihrem Staat, und ihren Bürokratien zu organisieren.

Vermutlich gibt es kein Land der Welt mit so vielen Bürokratien wie Deutschland. Dieser Überbau wird aus den Überprofiten des deutschen Imperialismus finanziert. Bereits vor 100 Jahren stellten Kommunist:innen fest, dass die Bürokrat:innen der Arbeiter:innenbewegung die sozialen Wurzeln des Opportunismus bilden. Heute ist das Problem noch krasser: Nicht nur die Arbeiter:innenbewegung ist bürokratisiert – auch die soziale Bewegungen haben vielfältige Bürokratien in Form von NGOs.

Als Marxist:innen sind wir nicht prinzipiell gegen bezahlte Posten in Gewerkschaften. Doch das geschieht im Kampf gegen die Korruptionsmechanismen dieser Apparate. Sozialist:innen müssen fordern, dass Hauptamtliche nur einen durchschnittlichen Arbeiter:innenlohn verdienen. Sie müssen direkt gewählt und jederzeit abwählbar sein, und die wichtigen Entscheidungen müssen von Versammlungen der Basis getroffen werden. Auch sollte niemand mehr als zwei Jahre einen solchen Posten bekleiden.

Genauso wollen wir als Sozialist:innen in die Parlamente ziehen. Aber hier ist die Korruption noch viel stärker. Revolutionäre Abgeordnete sollten die exorbitanten Löhne ablehnen, und nur noch einen durchschnittlichen Lohn eines arbeitenden Menschen nach Hause nehmen, während der Rest an Streikfonds gespendet wird.

Bis wir so weit sind, müssen Linke dem Druck der Kooptierung und Korruption entgegenwirken. Das bedeutet, dass wir immer gegen die Macht der Bürokratien und für direkte Demokratie in den Bewegungen kämpfen. Das hat aber auch persönliche Konsequenzen: Linke sollten sich nicht materiell von Bürokratien abhängig machen. Ja, jede:r braucht einen Job, um zu überleben. Aber genauso wie niemand Bulle sein muss, muss auch niemand sein Geld verdienen, indem man Arbeitskämpfe verrät oder die Außenpolitik des deutschen Imperialismus lobt. Sozialist:innen brauchen anständige Jobs.

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