Friedrich Merz: Der schwache Kanzler und die Angst vor der Arbeiter:innenklasse
Am Sonntag interviewte Caren Miosga im Ersten den Bundeskanzler Merz anlässlich von 35 Jahren bürgerlicher Restauration. Diese setzte ihn von rechts unter Druck und forderte mehr soziale Kürzungen. Dabei wirkte er defensiv, mit wenig Handlungsspielraum, eingeklemmt zwischen SPD und AfD, und vor allem der Furcht vor der Arbeiter:innenklasse und Klassenkampf wie in Frankreich.
Bundeskanzler Friedrich Merz war am Sonntag zu Gast in der Sendung von Caren Miosga, die anlässlich des 35. Jahrestages der bürgerlichen Restauration einlud. Vor allem ging es aber um soziale Kürzungen, die von der Moderation immer wieder, mal implizit, mal explizit, eingefordert wurden.
Dabei hielt Miosga Merz die historische Rede Gerhard Schröders vom 11. März 2003 vor, mit der dieser die damals größten Sozialkürzungen in der Geschichte der Bundesrepublik angekündigt und diese dann mit der Agenda 2010 auch durchgesetzt hatte. Auf die Frage, wann er den Mut habe, solche Reformen umzusetzen, erwiderte Merz: „An meinem Mut wird es nicht fehlen (…). Nur, ich bin nicht alleine in der Regierung und ich möchte, dass wir mit dieser Regierung einen ganz großen Teil dieser Bevölkerung davon überzeugen, dass dieser Weg richtig ist.“ Auf die Frage, ob die SPD dann diesen Mut noch nicht habe, entgegnete er: „Die SPD diskutiert genauso wie wir auch. Und ich habe eine junge Gruppe in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die sehr ungeduldig ist – die SPD hat ihrerseits Gruppen, die vieles von dem erhalten wollen, die SPD hat dieses sogenannte Bürgergeld erfunden.“
Der wahre Hintergrund zwischen diesen Phänomenen auf dem politischen Schachbrett dürfte aber ganz wo anders liegen: dem Klassenkampf beziehungsweise der Furcht vor diesem. Auf die Frage Miosgas, ob die SPD bei der Agenda 2010 mehr Mut gehabt habe als er heute, antwortete Merz: „Sie haben jedenfalls in der Zeit der Agenda 2010 mit Gerhard Schröder und Franz Müntefering den Mut gehabt, solche Reformen zu machen. Und ich möchte, dass diese nächste große Reform, die notwendig ist, zusammen mit den Sozialdemokraten machen. Ich möchte, dass auch große Teile der Gesellschaft diesen Weg mitgehen. Ich möchte nicht, dass wir so wie in Frankreich eine tiefe Spaltung der Gesellschaft mit Gelbwesten und Streiks und Protesten großer Teile der Bevölkerung erleben.“ „Das ist der Grund, warum Sie noch warten?“, fragte Misoga, woraufhin Merz klarstellte: „Weil wir es sorgfältig machen wollen.“
Das zeigt die große Angst der politischen Führung vor einem verschärften Klassenkampf und die großen Bemühungen, den sozialen Frieden zu wahren. Doch das wird man als illusorisch bewerten müssen, denn ohne Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse wird die Bourgeoisie ihre historische Aufrüstung nicht finanzieren und die Krise ihres Akkumulationsmodells wohl nicht überwinden können. Doch dann wird die Geduld der Bourgeoisie mit dieser Bundesregierung schwinden und der Druck größer, auf die AfD zu setzen, die für solche Maßnahmen unmittelbar bereit ist. Vorgelagert könnte dem eine Drohung mit der AfD sein. Es könnte auch sein, dass sich eine Tendenz von Teilen des Bürgertums hin zu einer Unterstützung der AfD verschärft, so wie es für einzelne Kapitalfraktionen (mittlere Lebensmittelindustrie) bereits zu beobachten war.
Es zeigt aber auch, wie genau die politische Führung auf die Massenproteste in Frankreich schaut, wo in den letzten Wochen an drei verschiedenen Aktionstagen bis zu eine Millionen Menschen auf die Straße gingen und streikten. Dieser Aufschwung des Klassenkampfes hat die Krise der Fünften Republik nochmals verschärft und zum zweiten Sturz der Regierung in nicht einmal einem Monat geführt. Das heißt auch, dass der Ausgang der jetzigen Sequenz des Klassenkampfes über Frankreich hinaus große Bedeutung hat: Verliert die Arbeiter:innenklasse diesen Kampf, wird der Weg frei werden für noch stärkere Sozialkürzungen. Daher wird es nötig sein, die Bewegung in Frankreich so weit wie möglich zu unterstützen und für ein Ende der Fünften Republik, den Rücktritt Macrons und ein Ein-Kammer-Parlament mit ständiger Abwählbarkeit der Abgeordneten einzutreten.
Auch die Angst vor einer weiteren Zersplitterung des politischen Systems wird in Merz‘ Äußerungen deutlich. So führte er aus, dass Schröder im Rahmen der Agenda 2010 eine Spaltung seiner Partei in Kauf genommen habe. Damals gründete sich die WASG, eine linke Abspaltung der SPD, welche sich später mit der PDS zur Linkspartei fusionierte, die derzeit die dynamischste Kraft links der SPD ist. Heute gibt es zusätzlich als weitere Abspaltung der Linkspartei und Teilen der SPD, das BSW. Eine weitere Polarisierung könnte entstehen und so Verhältnisse wie in Frankreich schaffen, wo das klassische Zwei-Parteien-System seit fast zehn Jahren erodiert ist. Hinzu kommt, dass die Bundesregierung eine Neuauszählung der Bundestagswahl fürchten muss und dadurch ihre Mehrheit verlieren könnte.
Merz wirkte im Interview ohne klare Aussage auch nur zu irgendeinem innenpolitischen Thema. Er meinte beispielsweise, seiner Meinung nach könne der Pfingstmontag entfallen, aber wir würden ihn behalten. Zur Diskussion um die Abschaffung des Pflegegrads 1 sagte er: „Diesen Vorschlag gibt es nicht.“ Nach mehrmaligem Vorhalt musste er dann zugestehen, dass dies aber nicht heißen würde, dass darüber nicht diskutiert werde. Selbst bei der Frage, ob der Video-Schiedsrichter im Fußball abgeschafft werden solle, legte er sich nicht fest und sagte unter anderem: „Ja und nein, ich habe keine abgeschlossene Meinung.“ Absurd wurde es dann, als er auf die Frage, ob man die Bezeichnung Veggie-Wurst verbieten solle, entgegnete: „Eine Wurst ist eine Wurst.“ Gekrönt wurde das nur von folgender Aussage, nachdem ihm vorgehalten worden war, gesagt zu haben, Lars Klingbeil reagiere sensibel auf Kritik: „Ich bin auch sensibel“, und lächelte verschmitzt.
Klare Aussagen gab es nur zu Israel, das weiter die uneingeschränkte Solidarität Deutschlands habe. Trumps kolonialen Plan für Gaza unterstütze die Bundesregierung ausdrücklich. Dann ging es ausführlich um seine Tränen für die Opfer des Holocausts. Er sagte, dass er emotional reagiere, wenn es um Kinder gehe. Doch zum andauernden Genozid in Palästina, der hunderttausenden direkten und indirekten Toten, darunter zehntausende Kinder, geführt hat, verlor er kein Wort.
Seine relative Isolation in der Außenpolitik, die versucht, wie früher im Fahrwasser der USA zu schwimmen, und seine Schwäche im Innern, werden den Klassenkampf nicht aufhalten und die Tendenzen der Polarisierung und Bonapartisierung nicht stoppen, sondern sind Ausdruck dessen und zugleich eine Vertiefung dieser. Die Angst der politischen Führung vor Aktionen der Arbeiter:innen und großen Protesten sollte diese ermutigen, sich die Kolleg:innen in Frankreich zum Vorbild zu nehmen. Auf die kommenden Angriffe müssen sich die Arbeiter:innen in Deutschland schon jetzt vernetzen, um vorbereitet zu sein, wenn Merz – oder ein anderer Kanzler – damit beginnen wird.