Elsa Marcel: „Der Kampf des palästinensischen Volkes ist untrennbar mit dem Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus verbunden“

02.06.2025, Lesezeit 20 Min.
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Über 2.000 Menschen versammelten sich am 24. Mai 2025 in Paris beim internationalistischen Event von Révolution Permanente und der Trotzkistischen Fraktion für die Vierte Internationale – ein beeindruckendes Zeichen gegen die Militarisierung und die extreme Rechte weltweit. Wir dokumentieren hier die Rede von Elsa Marcel, Anwältin und Sprecherin von Révolution Permanente.

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Ich möchte meinen Beitrag mit einer Hommage beginnen, denn seit anderthalb Jahren vergeht kein Tag, an dem wir nicht die Gesichter der von Israel ermordeten Palästinenser:innen auf unseren Handys vorbeiziehen sehen. Und es ist wahrscheinlich der erste Völkermord, bei dem die Opfer ihre eigenen Massaker live übertragen. Zehntausende Menschen starben unter den Bomben, unter den Kugeln des Hungers, weil sie keinen Zugang zu elementarer medizinischer Versorgung hatten. Doch hinter diesen Zahlen haben die Palästinenser:innen Namen und Geschichten. Also möchte ich, dass wir heute Abend während dieser Rede an sie denken, an Ahmed Mansour, einen palästinensischen Journalisten, der Anfang April von den Flammen verschlungen wurde, an Hassan Alaa Ayyad, einen vierzehnjährigen Teenager, der für seine wunderschöne Stimme bekannt war und bei einem Bombenangriff ums Leben kam, an Adnan Al Bursh, Arzt des Al-Shifa-Krankenhauses, der im schrecklichen Gefängnis von Auvers im Westjordanland starb, an Fatima Hassouna, eine 25-jährige Fotojournalistin, die sagte: Wenn ich sterbe, will ich einen lauten Tod. Dieses Treffen ist auch ein Mittel, um ihre Namen, ihre Toten, aber vor allem ihren Kampf hervorzuheben und erklingen zu lassen. Der Kampf für die Befreiung des palästinensischen Volkes.

Heute ist der Gazastreifen ein Trümmerfeld. Die Zerstörungen sind von einem Ausmaß, das im 21. Jahrhundert seinesgleichen sucht. Israels Kolonialoffensive hat in der kürzesten Zeit die meisten Journalist:innen, Gesundheits- und Hilfskräfte getötet. Während ich hier spreche, ist eine neue Phase des Massakers im Gange. Seit 80 Tagen blockiert Israel jeden Zugang für humanitäre Hilfe. Diese längste Blockade in der Geschichte des Gazastreifens hat die Bevölkerung bereits in eine absolute Notlage gebracht. Von Hungersnot betroffen, ohne Strom, Wasser und Medikamente. Wenn Netanjahu an diesem Montag etwas nachließ und begann, ein wenig Hilfe, in so geringen Mengen und in ein so zerstörtes Gebiet zu lassen, dass sie nicht einmal die Bevölkerung erreichen kann, dann nur, um seinen Plan zur Eroberung des Gazastreifens besser vorantreiben zu können. So erklärte auch der israelische Finanzminister Smotrich seinen suprematistischen Freunden, die allein schon von der Vorstellung schockiert waren, dass sie zustimmen müssten, Hilfsgüter nach Gaza zu schicken: „Wenn unsere guten Freunde uns bitten, anzuhalten und minimale Hilfe zu leisten, stimmen wir zu, um fortfahren zu können.“ Womit fortfahren? Mit den aktuellen Operationen. Ihr Ziel ist einfach: Jeden Abschnitt des Streifens Stadt für Stadt entleeren, um die Palästinenser:innen in den äußersten Süden, nach Rafah, umzusiedeln, von wo aus sie vernichtet oder deportiert werden sollen. Smotrich sagt es wiederum explizit: „Wir besetzen Gaza, um dort zu bleiben. Es ist ein Krieg um den Sieg. Es ist an der Zeit, dass wir aufhören, uns vor dem Wort Besatzung zu fürchten.“

Wie Dutzende von Forscher:innen, Anwält:innen und Jurist:innen, die die Situation seit eineinhalb Jahren verfolgen, immer wieder betonen, hat all das einen Namen: Es ist organisierter Völkermord, der akribisch vorbereitet und durchgeführt wird. Ein Völkermord, der lange vor dem 6. Mai und sogar schon am 9. Oktober 2023 öffentlich ausgerufen wurde, als Verteidigungsminister Yoav Gallant erklärte: „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und verhalten uns dementsprechend.“ Oder als der Sänger Eyal Golan dazu aufrief, Gaza auszulöschen, und Bilder von den Massakern sehr ruhig in einem Pariser Konzertsaal abspielte. Das war nicht vor einem Jahr, das war nicht vor sechs Monaten. Das ist noch nicht einmal eine Woche her. Ende März veröffentlichte der Gesundheitsminister in Gaza ein mehr als 1.500 Seiten umfassendes Dokument. Es listet die Namen der getöteten Palästinenser:innen auf. 474 dieser Seiten sind ausschließlich mit Namen von Kindern gefüllt, die ersten 27 ausschließlich mit Namen von Kindern, die getötet wurden, als sie zwischen null und einem Jahr alt waren. Israel bombardiert nicht nur Krankenhäuser, sondern auch Wohnhäuser, Bäckereien und Friedhöfe. Wir müssen auf die humanitären Helfer:innen hören, die aus Gaza zurückkehren, auf Krankenpfleger:innen wie Imane Maarifi, die wir die Ehre haben, unter uns zu haben, und für die ich um lauten Applaus bitte. Im Februar 2024 erzählte sie dem Parlament, was sie gesehen hatte: Kinder mit zertrümmerten Schädeln oder deren Augen von Scharfschützenkugeln zerfetzt wurden. Karren voller Leichen, die von Eseln gezogen werden. Mütter, die mit ihren Babys ankommen, mit ihren kalten Babys, die sich weigern zu glauben, dass sie tot sind.

Doch dieser Völkermord hat nicht im Oktober 2023 begonnen. Es geht darum, eine seit 77 Jahren andauernde ethnische Säuberung fortzusetzen und zu beschleunigen. Am 15. Mai dieses Jahres gedachten wir der Nakba. Das Datum, das gewählt wurde, um an jene Monate zu erinnern, in denen zwischen 1947 und 1949 mehr als 800.000 Palästinenser:innen zwangsvertrieben, ihres Landes beraubt und ins Exil getrieben wurden. Schon damals wandte sich die israelische Armee mit Flugblättern an die arabischen Bewohner:innen von Tirat Haifa, die Widerstand gegen die Besatzung leisteten. Sie sagte ihnen: „Wenn ihr der Nakba entkommen wollt, wenn ihr eine Katastrophe, eine unvermeidliche Ausrottung verhindern wollt, dann ergebt euch. Der Schraubstock zieht sich um euren Hals zu.“ Letzte Woche erklärte die Gazaerin Malak Radwan anlässlich des Jahrestages: „Der Nakba-Tag ist keine Erinnerung mehr. Heute ist dies zur alltäglichen Realität geworden.“

1948 wie heute hat dieser Völkermord überall auf der Welt Komplizen. Während der Amtszeit von Biden lieferten die USA Waffen im Wert von 17 Milliarden US-Dollar an den israelischen Staat. Trump trat in seine Fußstapfen und erklärte, dass Gaza in einen Badeort für Milliardäre verwandelt werden müsse. Frankreich wiederum ist Israels zweitwichtigster Importpartner. Der Kolonialstaat kauft bei ihm Militärmaterial und Hightech-Raketenleitsysteme, die unter anderem von Thales hergestellt werden. Diesen Mächten ist es zu verdanken, dass Israel seit zwei Monaten eine Bevölkerung verhungern lassen kann. Ihr ist es zu verdanken, dass viele Menschen Angst davor haben, den Völkermord laut und deutlich anzuprangern. Denn eineinhalb Jahre lang und auch heute noch war es eine subversive Handlung, darüber zu sprechen, und man riskierte eine infamierende Anklage, strafrechtliche Verfolgung oder willkürliche Inhaftierungen. Man muss nur dem Außenminister Stéphane Séjourné zuhören, der am 17. Juni 2024 sagte: „Den jüdischen Staat des Völkermords zu bezichtigen, bedeutet, eine moralische Schwelle zu überschreiten.“ Aber die moralische Schwelle haben sie selbst überschritten.

Dies muss umso lauter gesagt werden, als jetzt einige versuchen, sich auf die richtige Seite der Geschichte zu schleichen, unauffällig vom Lager der Unterstützer:innen des Völkermords ins Lager der Gerechten zu wechseln. Nach eineinhalb Jahren des Massenmords, eineinhalb Jahren, in denen sie den Völkermord geschehen ließen, und eineinhalb Jahren der offenen Unterstützung von Kriegsverbrecher:innen erklären Macron Starmer, dass sie nicht tatenlos zusehen werden. Die Europäische Union ihrerseits hat, nachdem sie ihre bedingungslose Unterstützung für Israel bekräftigt hatte, nun entdeckt, dass sie ihr Assoziierungsabkommen überprüfen kann. Aber wie kann man auch nur eine Sekunde lang denjenigen glauben, die gegen einen Haftbefehl verstoßen und Netanjahu frei rumlaufen lassen, während sie Gegner:innen des Völkermords wegen eines Tweets verfolgen? Wie kann es sein, dass all jene, die die israelische Kriegspropaganda zur Rechtfertigung ethnischer Säuberungen in Dauerschleife verbreiten, plötzlich ihre Meinung ändern? Die Realität ist, dass diese Wendung den absoluten Zynismus der europäischen Imperialismen und die Feigheit all jener zeigt, die bis heute geschwiegen haben. Diese Verzögerungen sind nicht nur unanständig und heuchlerisch, sondern auch hilflos. Wir gehören unsererseits zu denjenigen, die nie vergessen werden, dass sie Komplizen dieses Massakers sind und dass die Geschichte über sie richten wird.

Doch die westlichen Imperialisten sind nicht die einzigen Mächte, die eine Mitverantwortung für den Völkermord tragen. Was haben die Regierungen von Ägypten, Saudi-Arabien, Jordanien, Marokko oder den Vereinigten Arabischen Emiraten getan, während Gaza unter Beschuss stand? Entweder kollaborierten sie, schwiegen oder verhandelten. Vor dem Völkermord unterzeichneten die Vereinigten Arabischen Emirate, Marokko und Bahrain das Abraham-Abkommen, das die Apartheid und das Projekt Israels legitimiert, das aus seinen Zielen, das palästinensische Volk auszulöschen, nie einen Hehl gemacht hat. Saudi-Arabien macht Geschäfte mit Trump, während es Besorgnis heuchelt. Ägypten hält den Grenzübergang Rafah geschlossen und macht sich damit zum Komplizen der Blockade. Katar und die Türkei geben sich als Verbündete Palästinas aus, verhandeln aber hinter verschlossenen Türen mit Tel Aviv und Washington. All diese Länder mögen eine prinzipielle Solidarität mit Palästina zur Schau stellen, doch in Wirklichkeit haben sie Angst vor dieser Sache und werden nichts unternehmen, weil ihre Priorität nicht die Befreiung Palästinas ist, sondern die Stabilität ihrer eigenen Regime. Sie fürchten nicht die Verbrechen Israels, sondern, dass das Beispiel des Kampfes des palästinensischen Volkes ihre eigenen Völker oder ihre eigene Arbeiter:innenklasse erweckt. Deshalb verbieten sie Demonstrationen, verhängen Ausgangssperren und inhaftieren pro-palästinensische Aktivist:innen. Der Völkermord hat wieder einmal gezeigt, dass die arabische Bourgeoisie nicht der Verbündete des palästinensischen Volkes ist.

In diesem Fall muss man sich jedoch die Frage stellen: Wie kann man die Befreiung Palästinas, die wirkliche Befreiung, erreichen? In den letzten Monaten hat eine ganze Generation im Westen und in der arabischen Welt deutlich gesehen, dass weder das Völkerrecht noch die Diplomatie der Staaten ausreichen, um Völkermord, Apartheid und Kolonialisierung zu beenden. Natürlich haben die jüngsten Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs und die vom IStGH ausgestellten Haftbefehle dazu beigetragen, Israel zu schwächen und sein wahres Gesicht vor der Welt zu enthüllen. Gleichzeitig zeigen sie aber auch ihre Hilflosigkeit. Seit der Nakba hat der UN-Sicherheitsrat Hunderte von Resolutionen gegen Israel verabschiedet. Nicht eine davon führte zu einem Ende der Unterdrückung der Palästinenser:innen. Historisch gesehen wurde das Völkerrecht aufgebaut, um der Herrschaft der Imperialist:innen über die Welt eine demokratische Hülle zu geben. Er ist sehr effektiv bei der Sicherung ihrer Interessen, insbesondere wenn der Sicherheitsrat es ermöglicht, die Invasion Bosniens, des Kosovo oder die Bombardierung Libyens zu rechtfertigen, angeblich im Interesse der Völker. Aber wenn es um die Interessen der Großmächte geht, fallen diese Hebel weg. Niemals verurteilte der IStGH die US- amerikanischen Verbrechen in Afghanistan und kein internationales Gericht verlangte, dass französische Generäle für die in Algerien begangenen Folterungen zur Rechenschaft gezogen werden.

Ebenso muss in einer Zeit, in der die imperialistischen Anführer:innen ein Interesse daran finden, das Märchen von der Zwei-Staaten-Lösung wiederzubeleben, die wichtige Bilanz wiederholt werden, die eine ganze Generation von Palästinenser:innen aus der Bewährungsprobe der Osloer Abkommen gezogen hat. Kein palästinensischer Staat kann neben einem bis an die Zähne bewaffneten Kolonialstaat gedeihen, der entschlossen ist, sich auszudehnen, und von der Idee beseelt ist, dass sein Überleben die Auslöschung eines Nachbarvolks voraussetzt.

Aus all diesen Gründen wird die Befreiung des palästinensischen Volkes nicht von einer rechtlichen Entscheidung oder der Wahl internationaler Gremien abhängen, von denen es ausgeschlossen ist. Sie kann nur durch den Kampf aller Völker der Region und der Massen in der ganzen Welt erfolgen. Im Mai 2011 war es die ägyptische Massenbewegung, die nach dem Sturz Mubaraks die neue Regierung dazu zwang, zum ersten Mal seit 2007 die Freizügigkeit der Bevölkerung Gazas zu ermöglichen. Seit Oktober 2023 ist es das jordanische Volk, das gegen die Normalisierung mit Israel mobilisiert, insbesondere vor seiner Botschaft, und die Feigheit der arabischen Regierungen, das Verbot der palästinensischen Flagge und die polizeiliche Repression anprangert. Darin liegt die Energie und die Kraft, die koloniale Situation in Palästina zu beenden.

Es gibt eine alte Parole der palästinensischen Nationalbewegung die besagt, dass der Weg zur Befreiung Palästinas über Kairo, Amman und Damaskus führt. Diese Parole beanspruchen wir als Revolutionär:innen für uns. Nicht weil wir glauben, dass die reaktionären Regime in Ägypten, Jordanien, Syrien oder auch im Libanon oder Iran Verbündete im Kampf für die Befreiung Palästinas sein könnten, sondern weil wir glauben, dass das Ende der Kolonialisierung durch eine Revolution erreicht werden kann, die vom palästinensischen Volk im Bündnis mit den Arbeiter:innen und armen Massen der Region angeführt wird. Dieser Kampf muss sich gegen den Imperialismus und seinen Griff nach der Region richten, gegen die Regierungen, die Komplizen Israels sind. Aber sie muss auch den israelischen Arbeiter:innen und Jugendlichen die Hand reichen, die bereit sind, mit dem Zionismus zu brechen, wie die jungen Refuseniks, so sehr sie heute auch in der Minderheit sind.

Deshalb teilen wir weder die Methoden, noch das Programm, noch die Strategie der Hamas. Wir teilen auch nicht die Illusionen derjenigen, die glauben, dass die Rettung Palästinas durch ein Bündnis mit dem iranischen Staat heute erfolgen könnte, Oder gestern mit Baschar El Assad. Manchmal wird dafür sogar die Unterdrückung der Kämpfe der Arbeiter:innen und der Massen durch diese Regime gerechtfertigt.

Der Kampf des palästinensischen Volkes ist untrennbar mit dem Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus verbunden und kann sogar eine grundlegende Triebkraft dafür sein. So wie Jabra Nicola und die palästinensischen Revolutionär:innen der Vierten Internationale vor uns glauben wir fest an ein freies, säkulares und sozialistisches Palästina auf dem gesamten Gebiet des historischen Palästina – ein Palästina, in dem Jüd:innnen, Muslim:innen, Christ:innen und Atheist:innen Seite an Seite mit gleichen Rechten in einer Gesellschaft leben können, die in den Händen der Arbeiter:innen und der Massen liegt. Das ist möglich, und es ist sogar die einzige Perspektive für eine echte Emanzipation nach Jahrzehnten der Unterdrückung und der Massaker.

Heute ist der Staat Israel zwar radikalisiert und von beispielloser Grausamkeit, aber er ist auch auf der internationalen Bühne geschwächt. Trotz der enormen Schlagkraft der imperialistischen Mächte wissen Millionen Menschen, darunter auch die jüngere Generation von Juden und Jüdinnen, die sich zu Tausenden in den USA und weltweit organisieren, von nun an, dass Israel eine barbarische Kolonialmacht ist. Und es gibt und wird kein Zurück mehr geben. Überall wuchs die Solidaritätsbewegung trotz der Bemühungen der Imperialist:innen, sie zu zerschlagen. Millionen von Menschen auf der ganzen Welt sind in den westlichen Hauptstädten auf die Straße gegangen und werden dies auch weiterhin tun. Und vor allem sieht sich Israel mit dem Heldentum eines Volkes konfrontiert, das nicht sterben will. Vom Generalstreik 1936 unter dem britischen Mandat über die Organisation der Frauen, die Hilfskomitees der ersten Intifada bis hin zum Aufstand der Jugendlichen im Viertel Scheich Jarra im Jahr 2021 kämpfen die Palästinenser:innen mit außergewöhnlichem Mut gegen den Kolonialismus und die Imperialismen der ganzen Welt.

Die heutige Extremsituation,zeigt die Sackgasse des Zionismus. Ein Projekt, durch das ein Teil der Jüd:innen hoffte, dem europäischen Antisemitismus und dem Trauma der Shoah zu entgehen. In den 1930er Jahren beschrieb Trotzki diese Illusion, wie auch die jüdischen Sozialist:innen, als blutige Falle. Ein Jahrhundert später erinnern die Krise in Israel, der moralische Verfall seiner Eliten und die Furcht vor einem aufflammenden Bürger:innenkrieg an die Aktualität von Marx‘ Maxime, dass ein Volk, das ein anderes unterdrückt, niemals frei sein kann.

Der Mut des palästinensischen Volkes verpflichtet uns hier in Frankreich, nicht nur aus Solidarität mit einem Volk, sondern auch, weil Palästina heute der Katalysator für Tendenzen ist, die über es hinausgehen: die Verrottung des Kapitalismus und die damit einhergehende Beschleunigung des Autoritarismus. In den USA wartet Mahmoud Kalil auf seine Abschiebung und die Studierenden auf den US-Campussen werden erfasst, denunziert und verfolgt. In Deutschland werden pro-palästinensische Organisationen durchsucht. In England werden Dutzende Jugendlicher von Palestine Action, inhaftiert, weil sich gegen die Waffenfabriken gestellt haben. In Frankreich wird Urgence Palestine aufgelöst, eine Organisation, die von Exilpalästinenser:innen und politischen Gefangenen gegründet wurde, die sich der willkürlichen Inhaftierung und Folter in israelischen Kerkern wie Salah Hamouri entgegengestellt haben, entgegengestellt haben. Demonstrationen und Versammlungen werden verboten, Rima Hassan, Anasse Kazib, François Burgat, Jean Paul Deslescaut, Olivia Zemor und viele andere werden wegen ihrer unerschütterlichen Solidarität mit Gaza verfolgt. Und man muss eines sagen: Die Gewalt der Repression kommt zur Infamie der Anschuldigungen noch hinzu. Die Regime schrecken vor nichts zurück, um die Unterstützer:innen Palästinas in den Schmutz zu ziehen. Sie zögern nicht, den wesentlichen Kampf gegen den Antisemitismus zu instrumentalisieren, und die politischen Erb:innen des Nationalsozialismus, des Faschismus und der Kollaboration als Beschützer der Jüd:innen umzudichten.

Diese Repression ist heute die vorderste Spitze der autoritären Radikalisierung der liberalen Demokratien. in Frankreich leben wir seit zehn Jahren im Ausnahmezustand und es vergeht kein Jahr, in dem nicht eine Regierung ein weitreichendes repressives Gesetz verabschiedet. Antiterrorismuseinheiten. Unterdrückung von Demonstrant:innen. Ausweitung der Befugnisse der Polizei. Hausarrest. Nach und nach fallen alle Teile der Bevölkerung in diese Kategorie und machen Erfahrungen mit der Willkür der Macht. Diese autoritäre Beschleunigung wird sich in Zeiten des Wettlaufs um die Militarisierung, von Kriegstendenzen und Aufrüstung noch verschärfen. Bereits in den USA organisiert Trump die Abschiebung Hunderter venezolanischer Migrant:innen in die Gefängnisse von El Salvador. Darmanin rehabilitiert das Zuchthaus, indem er die Einrichtung eines Hochsicherheitsgefängnisses im Dschungel von Guyana ankündigt. Und Gabriel Attal will immer mehr Kinder einsperren.

Wenn die Repression gegen die Unterstützung für Palästina ein Katalysator ist, dann öffnet sie auch die Augen dafür, was die westlichen Demokratien wirklich sind: bürgerliche Regime, die bereit sind, alle Praktiken, die sie so stolz für sich beanspruchen, zu liquidieren, um ein System zu retten, dem die Luft ausgeht. Aus diesem Grund ist der Aufbau einer massiven kollektiven Gegenwehr für Palästina, aber auch im weiteren Sinne zur Verhinderung der Katastrophe unerlässlich.

Ich bin Aktivistin im Collectif d’action judiciaire, einer Gruppe von Anwält:innen und Jurist:innen, die ihre ganze Kraft in den Dienst der Verteidigung von Aktivist:innen gestellt hat, Indem sie Demonstrationsverbote und Hunderte von Strafzetteln anfechten, Menschen in in Polizeigewahrsam verteidigen und vor Gericht plädieren. Ich und meine Genoss:innen gehören zu der Generation, die im Kampf gegen das Arbeitsgesetz und an der Seite der Gelbwesten geschmiedet wurde. Von der wiederholten Anwendung präsidialer Dekrete bis zur Verstümmelung von Demonstrant:innen wurde schnell klar, dass es angesichts eines Regimes, das zu allem bereit ist, um sich zu verteidigen, nichts nützt, nur mit den großen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit zu wedeln. Aus all diesen Gründen sind wir davon überzeugt, dass der Kampf gegen die Repression nicht nur auf juristischem Gebiet geführt werden kann. Am 18. Juni wird uns die Ehre zuteil, Anasse Kazib und einen weiteren Aktivisten von Révolution Permanente zu verteidigen, die wegen ihrer Unterstützung des palästinensischen Volkes angeklagt werden. Wir alle müssen an diesem Tag zahlreich erscheinen, denn dieser Prozess soll zu einer Schule des Widerstands gegen das Regime werden. Denn heute bedeutet die Forderung nach einem Freispruch für Anasse und alle anderen, die Verteidigung des Rechts, sich für Palästina einzusetzen, auch, den Staat daran zu hindern, noch weiter zu gehen. Es bedeutet, sich die Mittel zu verschaffen, um ihren tödlichen Kurs zur Zerschlagung des Widerstands unserer Klasse aufzuhalten. Es bedeutet, sich die Mittel zu verschaffen, um die Freilassung von Georges Ibrahim Abdallah, dem ältesten politischen Gefangenen in Europa, zu erreichen. Seit 41 Jahren in den Kerkern des französischen Staates festgehalten. Es bedeutet, sich die Mittel an die Hand zu geben, um zu verhindern, dass morgen weitere Gewerkschafter:innen verfolgt werden, weil sie das Beste der Tradition der Arbeiter:innenbewegung ehren: den Internationalismus, die Weigerung, sich hinter ihren Staat zu stellen.

Dafür nehmen wir das Erbe der politischen Verteidigung und des revolutionären Kampfes in den Gerichtssälen auf uns. Die Tradition der Anwält:innen, die wissen, dass es Teil des Klassenkampfes ist, sich der Justiz engegen zu stellen, die wissen, dass das, was auf dem Spiel steht, nicht individuell ist, sondern für die Zukunft unseres gesamten sozialen Lagers von Bedeutung ist, die Tradition der kommunistischen Aktivist:innen wie Lenin, der angesichts der zaristischen Repressionen, über den Kopf des Richters hinweg das Gespräch mit den Massen suchte, die von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die als Sozialist:innen, Internationalist:innen und Antimilitarist:innen wegen ihres Kampfes gegen den Krieg verfolgt wurden, die erklärten: „Ich bin nicht hier, um mich zu verteidigen, ich bin hier, um anzuklagen.“ Sie haben gezeigt, dass sich politische Feigheit nicht auszahlt. Und ich möchte das Manifest der Anwält:innen zitieren, die die algerischen FLN-Aktivist:innen vor den französischen Gerichten verteidigten, die sie zum Tode verurteilten: „Angesichts des Ausmaßes des Protests, der sich gegen ihre Politik zeigt, ist die französische Regierung paradoxerweise darauf reduziert, die Zahl der Gerichtsverfahren, in denen ihre Politik immer härter in Frage gestellt wird, zu vervielfachen. Der Staatsanwalt der Liberalen und Regierungskommissar Ultra fragt sich, wie man auch nur einmal aus einem politischen Prozess als Sieger hervorgehen kann. Und obwohl ihre Helfer weder mit Badewannenwasser noch mit dem Acetylen der Schneidbrenner oder dem elektrischen Strom sparsam umgehen, gehen politische Prozesse jedes Mal und immer häufiger zu ihren Lasten aus. Das ist der naive Machiavelli, der nur eines vergisst: Gegen mutige Feinde gewinnt man einen politischen Prozess nur, wenn man im Recht ist. Sie vergessen nur eines: dass sie sich irren.“

Und weil sie falsch liegen und wir Recht haben, sollen sie wissen, dass es ihnen trotz ihrer Vorladungen, ihres Polizeigewahrsams und ihrer Prozesse niemals gelingen wird, uns zu brechen. Niemals wird es ihnen gelingen, unseren Kampf für die Befreiung des palästinensischen Volkes und der gesamten Menschheit zu beenden.

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