Eine übertragene Geburt: Rosa Luxemburg und die Gründung der KPD
Während des Ersten Weltkriegs debattierten Marxist:innen in Deutschland über den Bruch mit der Sozialdemokratie. Rosa Luxemburg gründete die Kommunistische Partei so spät wie möglich – und beging damit einen historischen Fehler.
Einige Jahre lang diskutieren wir bereits über die Möglichkeiten eines revolutionären Bruchs mit der Partei DIE LINKE. Darin spiegelt sich eine der ältesten strategischen Debatten unter revolutionären Sozialist:innen wider: Wie sollte sich die Avantgarde zu den Massen der Arbeiter:innenklasse verhalten?
Gegen Ende des Jahres 1847 legten Marx und Engels die bekannte Formel nieder: „Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den andern Arbeiterparteien. Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen.“1
Diese Formel ist jedoch unvollständig, seit sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine konservative, privilegierte Bürokratie der Führung der Arbeiter:innenbewegung bemächtigt hat und die Rolle eines Agenten des Kapitals in der Arbeiter:innenklasse spielt. Spätestens seit 1914 ist klar, dass Revolutionär:innen Organisationen in Opposition zu den Reformist:innen brauchen. Inspiriert von Lenin war es die Formel der Kommunistischen Internationale, basierend auf einem klaren Bruch mit Reformismus und Zentrismus revolutionäre Parteien aufzubauen.2 Diese Parteien kämpften dann mithilfe der Einheitsfronttaktik darum, die Arbeiter:innenklasse in der Aktion zu vereinen, sie aber politisch zu spalten.
Und doch gibt es noch immer heftige Meinungsverschiedenheiten unter Marxist:innen und Leninist:innen: Wie sollten Revolutionär:innen mit dem Reformismus brechen? Was tun wir, wenn wir noch zu schwach sind, um eine eigene Partei zu gründen? Um diese Fragen zu durchdenken, ist es hilfreich, sich mit dem Gründungsparteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) zu befassen, der am 30. Dezember 1918 in Berlin eröffnet wurde. Diesem Kongress waren mehrere Jahre der Debatte in der deutschen radikalen Linken vorangegangen.
Die Novemberrevolution 1918 ist das markanteste Beispiel für die Notwendigkeit einer revolutionären Partei, das die Geschichte zu bieten hat. Alle objektiven Bedingungen für eine sozialistische Revolution lagen vor: hochgradig entwickelte Produktivkräfte, eine enorme Arbeiter:innenklasse mit einem sozialistischen Bewusstsein und mächtigen Organisationen sowie ein Zusammenbruch der herrschenden bürgerlichen Ordnung. Millionen von Arbeiter:innen wollten den Sozialismus – doch es gelang ihnen nicht, ihn zu erobern, weil ihnen eine überzeugte und anerkannte revolutionäre Führung fehlte und sie deshalb auf Schritt und Tritt von konterrevolutionären Anführer:innen ausmanövriert wurden.
Trotzki erklärte die Niederlage einer anderen Revolution 20 Jahre später so: „was fehlte, war die revolutionäre Partei!“3 Die Gründung der KPD war ein Teil des Versuchs, diese Aufgabe zu erfüllen. Doch sie wurde in den chaotischen Tagen einer Revolution gegründet. Noch einmal Trotzki:
[E]ine solche Partei muss schon vor der Revolution bestehen, weil der Erziehungsprozess der Kader eine beträchtliche Zeit in Anspruch nimmt, und die Revolution diese Zeit nicht gewährt.4
Die Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands war ein heilloses Durcheinander.5 Die etablierten Anführer:innen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht verloren einige wichtige Stimmen an eine Mehrheit von ultralinken Delegierten, die keine strategische Vision hatten, wie sie die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse für eine revolutionäre Perspektive gewinnen könnten. Es dauerte zwei weitere Jahre, ehe die KPD zu einer wirklich revolutionären Massenpartei wurde – und selbst dann hatte sie noch zahlreiche Wachstumsschmerzen.
Die Linke während des Krieges
Stecken wir den Rahmen ab: Die alte Sozialdemokratische Partei Deutschlands war mehr oder minder die einzige politische Organisation der deutschen Arbeiter:innenbewegung. In ihr gab es einige verschiedene Tendenzen. Eine wachsende Parteibürokratie, die von Friedrich Ebert verkörpert wurde, strebte danach, sich in den imperialistischen Staat zu integrieren – im Grunde wie die SPD, die wir heute kennen. Doch der revolutionäre linke Flügel war ebenfalls eine starke Macht. Er kontrollierte einige der größten örtlichen Organisationen und zahlreiche Tageszeitungen. Zwischen diesen beiden Flügeln versuchte das „marxistische Zentrum“ um Karl Kautsky die Einheit der Partei zu bewahren. Das Zentrum war in Worten revolutionär und in Taten reformistisch – also das, was Marxist:innen heute „Zentrismus“ nennen.
Entscheidend war, dass die radikale Linke keine eigene Organisation besaß. Aus ihrer damaligen Perspektive brauchte sie keine: Rosa Luxemburg konnte ihre Ansichten in einigen der größten Zeitungen der SPD veröffentlichen und in Parteiveranstaltungen vor tausenden Genoss:innen sprechen. Im Jahr 1910 hatten Luxemburg und Kautsky ihren Austausch beendet. Als spontane Massenproteste für das allgemeine Wahlrecht in Preußen ausbrachen, wollte Luxemburg zum Generalstreik aufrufen, wohingegen Kautsky das Proletariat bis zum nächsten Wahlkampf zurückhalten wollte. Kautsky erlaubte Luxemburg daraufhin nicht mehr, in seinem theoretischen Magazin Die Neue Zeit zu veröffentlichen. Es hatte einen Bruch zwischen Zentrum und der Linken in der SPD gegeben – doch weil sie noch keine deutlich organisierten Fraktionen waren, wusste in der breiteren Parteimitgliedschaft oder unter Sozialist:innen international kaum jemand davon.
Daraufhin beobachten wir die Entstehung einer getrennten Organisation von Revolutionär:innen in der SPD: Ab Ende 1913 gaben Luxemburg, Franz Mehring und Julian Marchlewski (genannt Karski) die Sozialdemokratische Pressekorrespondenz heraus. Diese war jedoch nur ein Bulletin, das an sozialdemokratische Zeitungen verschickt wurde. Die Auflage betrug nur 150 hektografierte Kopien pro Woche. Es war noch immer keine deutlich sichtbare revolutionäre Opposition in der SPD.
Als der Erste Weltkrieg ausbrach, zerbrach die oft beschworene Einheit der Partei. Die Parteiführung erklärte ihre Unterstützung für den imperialistischen Krieg, während die Linke sich an internationalistische Prinzipien zu halten versuchte. Das Zentrum schwankte wie immer. Am 4. August 1914 stimmten sämtliche SPD-Abgeordnete im Reichstag für die Kriegskredite.
Was sollte die Linke also tun? An jenem Abend versammelte sich ein halbes Dutzend Genoss:innen in Rosa Luxemburgs Wohnung in Berlin-Südende. Sie verschickten 300 Telegramme, mit denen sie SPD-Mitglieder fragten, ob sie einen Protest gegen die Politik der Partei zum Krieg unterzeichnen würden. Sie erhielten eine einzige Antwort: aus Stuttgart von Clara Zetkin.6
Es dauerte sieben Monate, bis März 1915, ehe die radikale Linke in der Lage war, ihre eigene Zeitung, Die Internationale, herauszugeben. Sie wurde sofort verboten und von der Polizei konfisziert. Es vergingen weitere zehn Monate, bis sie ein illegales Bulletin, die Spartakus-Briefe, veröffentlichte. Am 1. Januar 1916 gründete sie endlich eine Gruppe – umgangssprachlich bekannt als „Spartakusgruppe“. Als deutliches Beispiel für ihre mangelnde Erfahrung mit der konspirativen Arbeit fand diese höchst gefährliche Versammlung in Karl Liebknechts Anwaltskanzlei statt, dessen Name auf einem Schild an der Tür stand.
Wie würden sich diese Revolutionär:innen zu ihrer alten Partei, der SPD, verhalten? Luxemburgs Haltung drückt sich wohl am besten in einem Brief aus, den sie ihrem Liebhaber, Kostja Zetkin, zwei Tage vor dem großen Verrat vom 4. August 1914 schrieb. Er fragte sich, ob er aus der Partei austreten sollte. Sie antwortete:
Über Dein ‚Austreten aus der Partei‘ habe ich gelacht. Du großes Kind, willst du vielleicht aus der Menschheit auch ‚austreten‘? … In einigen Monaten, wenn Hunger kommt, wird sich das Blatt allmählich wenden.7
Rosa Luxemburg hatte eine lange Tradition, „aus dem Prinzip einer einheitlichen Partei nahezu einen Fetisch“ zu machen, wie Raya Dunayevskaya feststellte.8 1908 schrieb Luxemburg an ihre niederländische Freundin Henriette Roland-Holst, die aufgrund der Bürokratisierung der Partei mit dem Gedanken spielte, aus der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) auszutreten: „Wir dürfen nicht außerhalb der Organisation, außer Kontakt mit den Massen stehen. Die schlechteste Arbeiterpartei ist besser wie keine.“9
Stellen wir Luxemburgs Kraftlosigkeit einmal dem gegenüber, was Lenin im Schweizerischen Exil zu bewegen imstande war. Als er zum ersten Mal die Zeitungen sah, die von dem Verrat der SPD berichteten, war er schockiert – er glaubte zuerst an eine Fälschung des deutschen Militärgeheimdienstes. Verglichen mit Luxemburg war Lenin die Verrottung im Herzen der SPD weniger bewusst, doch er hatte eine Partei, die mit dem Reformismus bereits gebrochen hatte und konnte rasch auf die neue Situation antworten: „Die II. Internationale ist tot, vom Opportunismus besiegt. Nieder mit dem Opportunismus; es lebe die […] III. Internationale!“10
Im Verlauf des Krieges betonte Lenin immer wieder die besondere Gefahr, die von den Zentrist:innen ausging. Diese predigten die Einheit mit den Sozialpatriot:innen, die aggressiv den Krieg unterstützten. Luxemburg und ihre Genoss:innen schwankten dagegen jahrelang in der Frage eines sauberen Bruchs. Dabei handelt es sich nicht um eine organisatorische Frage.
Luxemburg und die Anführer:innen der Spartakusgruppe waren der Ansicht, dass sie in der SPD bleiben müssten, um im engen Kontakt mit den Massen zu bleiben. Dies war Ausdruck ihres Verständnisses der sozialistischen Partei als einer Art urwüchsiger Organisation der Arbeiter:innenklasse. Luxemburg verfasste die sogenannte „Junius-Broschüre“ als eine brennende Anklage des Verrats der SPD – doch sie weigerte sich, zu einer neuen Organisation frei von der Kontrolle der Verräter:innen aufzurufen.
Deshalb existierte in Deutschland zunächst kein organisierter Ausdruck der Kriegsgegnerschaft – kein Banner stand für eine klare Antikriegshaltung. Karl Liebknecht wurde deswegen so bekannt, weil er teilweise die Rolle dieser fehlenden Organisation ausfüllte. Im Verlauf des Krieges wuchs der Unmut nichtsdestoweniger von oben und von unten. Liebknecht und nun auch weitere sozialistische Abgeordnete stimmten gegen weitere Kriegskredite, während Frauen aus der Arbeiter:innenklasse an Hungerrevolten und Antikriegsprotesten teilnahmen.
Für eine Partei der Linken
Sollten Arbeiter:innen also in der SPD bleiben? Im Sommer 1916 begann ein ehemaliger Lehrer aus Bremen namens Johann Knief eine neue Wochenzeitung herauszugeben: Arbeiterpolitik. Zwei führende Figuren der Bremer Linksradikalen waren Knief und Paul Frölich. Die zwei wichtigsten regelmäßigen Autoren in der Arbeiterpolitik waren Ausländer, die in Deutschland lebten: Anton Pannekoek aus den Niederlanden und Karl Radek aus Polen (der 1912 aus Rosa Luxemburgs polnischer Partei ausgeschlossen worden war).
Die radikale Linke hatte die SPD-Parteiorganisation in Bremen angeführt, doch war es dem rechten Flügel 1916 mit der Hilfe des Staates gelungen, die täglich erscheinende Bremer Bürger-Zeitung zu übernehmen. Nun gab es mindestens zwei verschiedene revolutionär-marxistische Strömungen in Deutschland: Luxemburgs Spartakusgruppe blieb Teil der SPD, die Arbeiterpolitik hingegen setzte sich dafür ein, dass die radikale Linke austreten und ihre eigene Partei gründen solle.
Die Kampagne begann, Eindruck auf junge Spartakist:innen zu haben. Im Juni 1916 nahm Luxemburg mit jungen Genoss:innen der sozialistischen Jugend aus Duisburg unter der Führung von Rosi Wolfstein an einer Versammlung in Frankfurt teil. Sie waren der Meinung, dass sie sich auf eine Abspaltung von der SPD vorbereiten müssten, doch habe ihr, wie sich Wolfstein viele Jahrzehnte später erinnerte, Luxemburg den „Kopf gewaschen“. „In dieser Ansicht sah sie jugendliche Unreife.“11
Nach dieser Versammlung schrieb Luxemburg an Zetkin:
Die Duisburger scheinen sich verrannt zu haben, sie wollen partout den allgemeinen Austritt aus der Partei proklamieren. Ich habe dem scharf widersprochen und will demnächst öffentlich dagegen auftreten.12
Rosa Luxemburg legte ihre strategische Ansicht in einem Artikel dar, der am 6. Januar 1917 in einer oppositionellen sozialdemokratischen Zeitung aus Duisburg erschien:
So löblich und begreiflich die Ungeduld und der bittere Groll sind, aus denen heraus sich heute die Flucht vieler der besten Elemente aus der Partei ergibt: Flucht bleibt Flucht, uns ist sie ein Verrat an den Massen, die in der würgenden Schlinge der Scheidemann und Legien, der Bourgeoisie auf Gnade und Ungnade preisgegeben, zappeln und ersticken. Aus kleinen Sekten und Konventikeln kann man ‚austreten‘, wenn sie einem nicht mehr passen, um neue Sekten und Konventikel zu gründen. Es ist nichts als unreife Phantasie, die gesamte Masse der Proletarier aus diesem schwersten und gefährlichsten Joch der Bourgeoisie durch einfachen ‚Austritt‘ befreien zu wollen und ihr auf diesem Wege mit tapferem Beispiel voranzugehen.13
Dieselben Debatten fanden in allen sozialistischen Parteien der Welt statt. Der imperialistische Krieg reduzierte die komplexesten theoretischen Fragen auf ein „Für“ oder „Wider“ und erzwang so eine lang überfällige Abrechnung zwischen Reformist:innen und Revolutionär:innen.
Die „Zimmerwalder Konferenz“ im September 1915 brachte Internationalist:innen aus verschiedenen Ländern in der Schweiz zusammen, sowohl des Zentrums als auch von der Linken der sozialdemokratischen Parteien. Diese und weitere Versammlungen, darunter auch Treffen der sozialistischen Jugend und Frauen, erlaubten Lenin und seinen Mitstreiter:innen für einen internationalen Bruch mit dem Opportunismus zu plädieren – Zimmerwald stellte den Startpunkt für die Kommunistische Internationale dar. Diese politischen Kämpfe hatten einen anhaltenden Effekt auf Marxist:innen in Deutschland.
USPD
Die Frage wurde mit dem Wachstum der Opposition zum Krieg dringlicher. Karl Liebknecht hatte im Dezember 1914 als einziger SPD-Abgeordneter im Reichstag gegen die Kriegskredite gestimmt. Ein Jahr später sprachen sich 20 Abgeordnete des SPD-Zentrums gegen neue Kriegskredite aus – die Linke bezeichnete sie wegen ihrer späten und lauen Gegnerschaft zum imperialistischen Gemetzel spöttisch als „Dezembermänner“. Sie wurden im März 1916 von der SPD-Führung aus der Partei ausgeschlossen.
Jene ausgeschlossenen sozialdemokratischen Abgeordneten hielten im Januar 1917 eine reichsweite Konferenz der Opposition ab. Die Parteiführung schloss im Gegenzug restlos alle aus – im Laufe des Krieges schloss die SPD wohl die Mehrheit ihrer Mitglieder aus. Die Opposition sah sich gezwungen, eine eigene Partei zu gründen. Dies tat sie auf einem Kongress in Gotha am Osterwochenende 1917: die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD).
Wie würde sich die radikale Linke zu dieser neuen Partei verhalten? Im Februar 1917 fand in Berlin ein Geheimtreffen zwischen Leo Jogiches, dem operativen Kopf der Spartakusgruppe während Luxemburgs Haftstrafe, und Johann Knief von der Arbeiterpolitik statt. Die Diskussion war hitzig: Wie Käte Duncker später berichtete, war Ersterer „für die Zweizahl“, Letzterer „für die Dreizahl“. In anderen Worten: Sollte es nach der Spaltung der SPD zwei Parteien geben, indem sich die Linke mit dem Zentrum in der USPD zusammenschloss? Oder sollten es drei sein, indem die Linke ihre eigene Partei unabhängig von der SPD aufbaute?14
Rosa Luxemburg führte diese Polemik fort. Sie schrieb in einer oppositionellen Duisburger Zeitung am 2. März 1917:
Die entschiedene Linke [die Spartakusgruppe, A.d.A.] stellt somit der Opposition der Arbeitsgemeinschaft [der unabhängigen Sozialdemokratie] nicht ein anderes Programm und eine in ihren Grundlagen ganz verschiedene Taktik entgegen, die jederzeit und als ständige Einrichtung der Basis für eine gesonderte Parteiexistenz abgeben können, sondern sie ist nur eine andere historische Tendenz der Gesamtbewegung des Proletariats, aus der sich allerdings ein verschiedenes Verhalten fast in allen Fragen der Taktik und der Organisation ergiebt [sic]. Die Meinung jedoch, daß daraus die Notwendigkeit oder auch nur die objektive Möglichkeit folgt, die Arbeiter heute in verschiedene sorgfältig getrennte Parteikäfige, entsprechend der beiden Richtungen der Opposition einzupferchen, beruht auf einer Konventikelauffassung der Partei.15
Die gegenteilige Ansicht brachte Karl Radek in einem dreiteiligen Artikel in Arbeiterpolitik vor:
[D]er Gedanke an eine gemeinsame Parteibildung mit den Zentrumsleuten [ist] eine schädliche Utopie. Die Linksradikalen müssen, ob die Verhältnisse für sie günstig sind oder nicht, an die Bildung einer eigenen Partei gehen, wenn sie ihre historische Aufgabe erfüllen wollen.16
Ein Leitartikel in der Arbeiterpolitik, den wahrscheinlich Knief verfasst hat, fasste das Problem so zusammen:
Die Linksradikalen stehen vor einer schwerwiegenden Entscheidung. Die größte Verantwortung liegt bei der Gruppe ‚Internationale‘ [d.i. die Spartakusgruppe, A.d.A.], in der wir trotz aller Kritik, die wir an ihr üben müssen, die aktivste, zahlreichste Gruppe, den Kern der zukünftigen linksradikalen Partei anerkennen. Ohne sie — das gestehen wir offen ein — werden wir und die I.S.D. [Internationale Sozialisten Deutschlands, der formelle Name der Bremer Linksradikalen] in absehbarer Zeit keine aktionsfähige Partei bilden können. Von der Gruppe ‚Internationale‘ hängt es ab, ob der Kampf der Linksradikalen in geordneter Front, unter eigenem Banner, wenn auch einstweilen durch eine kleine Armee geführt wird, oder ob die Gegensätze in der Arbeiterbewegung, die einmal bestehen und deren Durchkämpfung ein Faktor der Klärung, der Machtgewinnung ist, eine lange Zeit in verwirrter Form, also langsamer ausgefochten werden.17
Die Bremer Linksradikalen sagten, dass die SPD bereits in drei verschiedene Parteien gespalten war. Eine organisatorische Einheit mit dem Zentrum würde die Linke jedoch daran hindern, selbst als eigenständige Strömung sichtbar zu werden. Die Spartakusgruppe entgegnete, dass die Massen der Arbeiter:innen sich der neuen USPD anschließen würden und eine weitere Spaltung nur zu Verwirrung führen würde. Für sie war die USPD das Forum, auf dem es das Zentrum zu bekämpfen galt, während man sich die „Freiheit der Kritik und der unabhängigen Aktion“ bewahrte. Jogiches schrieb damals:
[S]oll es zu einer reinlichen Scheidung zwischen uns und der AG [Arbeitsgemeinschaft, d.h. das Zentrum] kommen, dann liegt es in unserem Interesse, diesen Moment möglichst hinauszuschieben, damit wir bei der Scheidung einen großen Teil der Armee in das Lager der entschiedenen Opposition hinüberziehen können…18
Die Linken hielten am 5. April, dem Vortag des USPD-Kongresses, in Gotha eine Vorkonferenz ab. Knief nahm als Vertreter aus Bremen teil und trat gegen einen Beitritt in die USPD ein. Stattdessen rief er zur Bildung einer eigenständigen Partei der radikalen Linken auf. Knief hatte Anlass zur Hoffnung, dass eine Mehrheit der Spartakist:innen die USPD ablehnen würde – die meisten der Delegierten stimmten seiner Position zu, darunter auch die großen Gruppen in Dresden (Otto Rühle), Chemnitz (Franz Heckert und Heinrich Brandler), Stuttgart, Duisburg und weitere. Jogiches konnte sich jedoch gemeinsam mit Ernst Meyer auf Luxemburgs immense Autorität verlassen, um doch noch eine Mehrheit für den Beitritt zur USPD zu organisieren.19
(Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Lenin oftmals als Diktator dargestellt wird, während Luxemburg als Demokratin gilt. Luxemburg und Jogiches waren das Duo, das sowohl die polnische Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens (SDKPiL) und die Spartakusgruppe anführte. Ihre organisatorischen Methoden dort waren deutlich weniger demokratisch als Lenins in der bolschewistischen Partei.)
So trat die Spartakusgruppe im April 1917 der USPD bei und blieb ein Teil von ihr, bis sie Ende Dezember 1918 austrat, um die KPD zu gründen. Auf dem Gründungsparteitag der USPD hielten manche der kritischsten Spartakist:innen Reden. Rosi Wolfstein, die erst gar nicht hatte dort sein wollen, sagte: „Nach meiner Meinung hätte die Loslösung [der USPD von der SPD] viel früher vollzogen werden müssen.“ Die Zentrumsleute hätten „in der alten Partei verharrt, bis sie durch Fußtritte hinausgeworfen“ wurden.20
Fritz Globig, ein Kopf der oppositionellen Jugendbewegung während des Krieges, wies auf die Widersprüche in der Politik der Spartakist:innen hin: „Der SPD-Vorstand fürchtete keine Spaltung, wohl aber die Linken.“ Die sozialistische Jugend Berlins und in anderen großen Städten hatte bereits 1915 wegen der Kriegsfrage mit der Parteibürokratie gebrochen. In seiner 40 Jahre später veröffentlichten Autobiografie erinnerte sich Globig, dass die „Schwäche und Halbheit der Spartakusführer“ auf die jungen Leute, die ihre Leben für den Kampf gegen den Krieg aufs Spiel setzten, keinen Eindruck gemacht hatte.21
Anfang 1939 kritisierte auch der deutsche Trotzkist Walter Held die Haltung der Spartakusgruppe:
Rosa Luxemburg und ihre Freunde hatten damit getröstet, in der grossen [sic] historischen Krise würden die Massen die Partei korrigieren und sie mitreissen [sic]. Jetzt mussten sie erleben, dass den Massen in dieser Situation nichts übrig blieb, als — wenn auch vielleicht zähneknirschend — den Weisungen der Partei zu folgen.
Für Luxemburg war dies mit ihrer strategischen Vorstellung einer revolutionären Partei verbunden. Held schrieb dazu: „[S]ie bekämpfte den Zentralismus als solchen, statt dem Zentralismus der Opportunisten denjenigen der revolutionären Marxisten gegenüberzustellen.“22
ISPD
Dies bringt uns zu einer wenig bekannten Episode in der Vorgeschichte der KPD. Mehrere Monate, nachdem die Spartakusgruppe der USPD beigetreten war, veröffentlichte die Arbeiterpolitik einen Aufruf zu einer neuen Partei der radikalen Linken. Sie hoffte darauf, dass die Spartakusgruppe die Führung übernehmen würde, doch diese weigerte sich. So trafen sich am 26. August 1917 13 Delegierte aus verschiedenen Teilen des Reichs in der Kneipe von Paul Tietze in der Barfusstraße 9 in Berlin-Wedding (das Gebäude steht noch heute).
Sie hatten vor, die Internationale Sozialistische Partei Deutschlands (ISPD) zu gründen, die ein „Glied der entstehenden 3. Internationale“ werden sollte. Man kann sich leicht ihren Plan ausrechnen: Sie wollten Spartakus vor vollendete Tatsachen stellen. Würde es eine neue Partei geben, könnten diejenigen Spartakist:innen, die die Arbeit in der USPD ablehnten, ihre Gruppe für eine Abspaltung gewinnen. Dies geschah leider nicht. Die Polizei stürmte die Versammlung und verhinderte die Gründung der ISPD. Die Arbeiterpolitik war damals schon ernsthaft geschwächt: Knief war untergetaucht, um der Verhaftung zu entgehen, Frölich war an die Front geschickt worden, Pannekoek war in den Niederlanden und Radek war ins Exil nach Schweden gegangen.23
In der Geschichtsschreibung gelten die Internationalen Kommunisten Deutschlands (IKD), wie sich die Bremer Linksradikalen schließlich nannten, meist als Ultralinke. Im Verlauf des Krieges gerieten sie tatsächlich unter einen gewissen anarcho-syndikalistischen oder linkskommunistischen Einfluss. Manche ihrer Dokumente riefen zu „führerlosen Organisationen“ oder „Einheitsorganisationen“, die die Spaltung zwischen Parteien und Gewerkschaften überwinden sollten. Dennoch waren die Bremer Linksradikalen während des Krieges die am meisten leninistische Gruppe in Deutschland. Besonders Knief wehrte sich gegen ultralinke Ideen, indem er die Idee einer revolutionären Partei gegen die Fantasie von Organisationen ohne Führung verteidigte. Ende 1918, als die Mehrheit der IKD für einen Boykott der kommenden Wahlen eintrat, kämpfte Knief für die leninistische Position, die Wahlen zur Verbreitung kommunistischer Ideen zu verwenden.
Welche Rolle spielten die Bolschewiki in all dem? Das ist nicht leicht zu beantworten. Lenin trat für einen Bruch mit den Sozialpatriot:innen und dem Zentrum in allen Ländern ein und kritisierte ausdrücklich Luxemburg für ihren Glauben, dass die Einheit weiterhin möglich oder wünschenswert war.24 Was jedoch dachte Lenin im Besonderen darüber, wie sich die Linke in Deutschland organisieren sollte? Darauf gibt es nur einige wenige indirekte Hinweise.
Anfang 1917 bezog sich Käte Duncker auf die Arbeiterpolitik und ihre „Berner Hintermännern“.25 Dies scheint eine Referenz zu den russischen Emigrant:innen in der Schweiz zu sein. Karl Radek stand den Bolschewiki sicherlich nahe und trat für einen Bruch mit der USPD ein – doch wurde er erst Mitglied der bolschewistischen Partei, nachdem er Bern verlassen hatte.
In seiner Autobiografie erinnert sich Paul Frölich:
Ich weiß übrigens von Jan Knief, daß er von Lenin Anfang 1917 eine Warnung erhielt. Man solle keinesfalls die Spaltung forcieren. Man müsse vielmehr so lange in der Sozialdemokratie bleiben, als man unbeschränkt die eigenen Gedanken propagieren könne. Jede Möglichkeit, im engsten Kontakt mit den organisierten Massen zu bleiben, müsse ausgeschöpft werden.26
Hierfür habe ich bisher keine Belege finden können. Es ist wichtig anzumerken, dass Frölich 20 Jahre später im Exil und ohne ein persönliches Archiv schrieb, während er sich zu jener Zeit bereits von der revolutionär-sozialistischen Politik abwandte. Er schrieb zudem über eine Zeit, als er sich selbst an der Front befunden hatte. Er mag falsch informiert gewesen sein, sich falsch erinnert haben oder die Frage später anders gesehen haben. Es scheint wahrscheinlicher, dass Lenin hinter den Kulissen einen Bruch mit der USPD befürwortete, doch weitere Forschung ist nötig.
KPD
Dies bringt uns zur Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands am 30. Dezember 1918. Es war ein historischer Schritt für die deutsche Arbeiter:innenklasse – und gleichzeitig ein Fiasko. Nachdem sie am 10. November 1918 aus der Haft entlassen worden war, hatte Rosa Luxemburg schonungslos die Führung der USPD kritisiert und war für einen Parteitag eingetreten, auf dem die Mitgliedschaft den Kurs der Partei verändern könnte. Der Tiefpunkt war sicherlich die Reichsversammlung der Arbeiter- und Soldatenräte Mitte Dezember in Berlin. Die SPD vertrat dort eine eindeutige Perspektive: Sie befürwortete eine Nationalversammlung als politische Form der fortgesetzten Diktatur der Bourgeoisie. Die Spartakist:innen waren nicht weniger eindeutig: „Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten!“27 Die USPD hingegen schwankte und fantasierte von einer Art Amalgam aus bürgerlichem Parlament und einer Regierung der Arbeiter:innen.
Die Linke konnte ihre Perspektive vor den Massen nicht vertreten, weil sie als linker Flügel einer zentristischen Partei handelte. Hierin kam zum Ausdruck, was Karl Radek fast zwei Jahre zuvor beschrieben hatte:
Zwei durch grundsätzliche Differenzen geschiedene Richtungen können nur solange in derselben Partei verbleiben, als die eine von beiden auf ihr selbstständiges Auftreten in der Oeffentlichkeit verzichtet.28
Nachdem der von der SPD dominierte Rätekongress dafür gestimmt hatte, die Macht an die Bourgeoisie abzugeben, konnten die Spartakist:innen nicht länger in der USPD bleiben. Ende 1918 kehrte Radek nach Deutschland zurück, nun als Vertreter der bolschewistischen Partei und der Sowjetregierung. Mit einem Mandat Lenins ausgestattet koordinierte er aktiv die Bemühungen zur Gründung einer neuen, kommunistischen Partei. Luxemburg wollte bis zum nächsten Parteitag in der USPD bleiben. Dieser war für März 1919 angesetzt. Radek stellte ihr jedoch ein Ultimatum: Würde sie nicht die Führung beim Aufbau einer neuen Partei übernehmen, würde diese ohne sie gegründet werden. Jogiches blieb bis zum Ende dagegen: Auf der Vorkonferenz der Spartakist:innen war er einer von drei Delegierten, die gegen den Austritt aus der USPD stimmten.
In anderen Worten: Luxemburg, Jogiches und die Spartakusgruppe hatten während des Kriegs den Bruch mit dem Reformismus abgelehnt. Nun zwang sie zuletzt die Entwicklung der Revolution dazu, ihre eigene Partei zu gründen – als es längst viel zu spät dafür war.
Auf ihrem Gründungsparteitag verzeichnete die neue KPD einige bedeutende Erfolge. So gewann sie etwa eine große Mehrheit der USPD in der proletarischen Hochburg Berlin-Neukölln für sich. Jedoch stellte sich eine Mehrheit der Delegierten Luxemburg und Liebknecht entgegen und unterstützte ultralinke Politiken wie den Boykott der kommenden Wahlen zur Nationalversammlung und den Austritt aus den Gewerkschaften (Luxemburg gelang es eine Abstimmung über die letztere Frage zu verhindern, indem sie zu einer Verschiebung der Debatte aufrief). Die meisten der Ultralinken waren erst vor Kurzem zu politischem Bewusstsein gelangt und glaubten deshalb, dass der Sieg der sozialistischen Revolution nur wenige Wochen entfernt war. Sie sahen keine Notwendigkeit für eine geduldige Strategie, um die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse zu gewinnen. Die Revolutionären Obleute, Gewerkschafter, die Massenstreiks gegen den Krieg organisiert hatten, sollten sich der Partei anschließen, weigerten sich aber wegen ihrer ultralinken Tendenzen.
Insgesamt schlossen sich der KPD zwischen 10.000 und 50.000 Mitglieder an – ein winziger Bruchteil der halben Millionen in der USPD. Eine revolutionäre Partei, die die Deutsche Revolution hätte anführen können, hätte Jahre gebraucht, um ihr Programm zu schärfen, eine Führung auszuwählen, ihre Taktiken zu erproben und ihre Organisation aufzubauen. Stattdessen versuchte die KPD, in der Hitze des revolutionären Kampfes eine politische Linie zu improvisieren. Innerhalb von nur einer Woche ließ sich die unerprobte Führung in einen verfrühten Aufstand hineinziehen. Die Konterrevolution hatte Luxemburg und Liebknecht eine Falle gestellt und sie tappten hinein.
Ein Fazit für 1918/19
Die Niederlage der Deutschen Revolution war nicht das Ergebnis eines unvermeidlichen historischen Prozesses. Lenin sagte deutlich, dass die proletarische Revolution im Westen weitaus schwieriger sein würde als im zurückgebliebenen Russland. Dies war jedoch keine Entschuldigung für die historischen Fehler, die Luxemburg und ihre Genoss:innen begangen haben. Es waren nicht nur organisatorische Fehlschläge. Die Weigerung, eine unabhängige revolutionäre Partei aufzubauen, war vielmehr ein Ausdruck von Luxemburgs gesamter Revolutionstheorie. Sie glaubte, dass die Arbeiter:innenklasse durch eine Reihe sich steigender Massenstreiks den Kapitalismus stürzen könnte.
Selbst als die erste große revolutionäre Offensive im Januar 1919 krachend zum Halt kam und sich eine furchtbare Niederlage ankündigte, blieb Luxemburg überzeugt, dass eine revolutionäre Führung bestenfalls eine zweitrangige Frage war:
Die Führung hat versagt. Aber die Führung kann und muß von den Massen und aus den Massen heraus neugeschaffen werden. Die Massen sind das Entscheidende, sie sind der Fels, auf dem der Endsieg der Revolution errichtet wird.29
Wie etliche Revolutionen, darunter der Februar 1917 in Petrograd oder der November 1918 in Berlin, gezeigt haben, genügt eine spontane Erhebung tatsächlich, um ein altes Regime niederzureißen. Doch eine Regierung der Arbeiter:innen – die Diktatur des Proletariats – kann nur das Werk einer bewussten Handlung sein und Millionen von Arbeiter:innen können nur vermittels einer Partei als bewusster historischer Faktor handeln. Noch einmal Walter Held:
Es ergibt sich klar, dass Rosa Luxemburg vom Verlauf der proletarischen Revolution ein ganz und gar unzulängliches Bild hatte. Sie stellte sich die proletarische Revolution als eine Art neuer Novemberrevolution vor, als eine Kette von Streiks und Erhebungen, die schliesslich in einen allgemeinen Generalstreik oder auch Volksaufstand münden. Die Rolle der Partei beschränkt sich bei ihr darauf, die Massen zur Aktion zu rufen, dann wird schliesslich die Macht der Partei als reife Frucht in den Schoss fallen, etwa wie die Sozialdemokratie die Früchte der ersten Revolution geerntet hatte. Sie erkannte nicht, dass es die Aufgabe der Partei ist, die Massen zu sammeln und zu disziplinieren wie die Truppen zu einer Schlacht und dass die Führung der Partei gleich einem genialen Feldherren oder Generalstab den strategischen Schlachtplan im Kopfe haben und in die Wirklichkeit umsetzen muss.30
Luxemburg weigerte sich, einen Generalstab der Revolution aufzubauen, weil sie ihn nicht für nötig hielt. Ihre Genoss:innen – jene, die die Konterrevolution überlebten – gestanden offen ein, dass dies ein Fehler gewesen war. Franz Mehring schrieb kurz vor seinem Tod über die Spartakusgruppe:
Nur in einem haben wir uns getäuscht: nämlich, als wir uns nach der Gründung der Unabhängigen Partei …, ihr organisatorisch anschlossen, in der Hoffnung, sie vorwärts treiben zu können. Diese Hoffnung haben wir aufgeben müssen.31
Zwei Jahre später schrieb Rosa Luxemburgs Nachfolger auf dem Posten des KPD-Vorsitzenden, Paul Levi:
Kein Kommunist ist heute in Deutschland, der nicht tief bedauerte, dass die Gründung der kommunistischen Partei nicht schon längst vollzogen wurde in der Zeit vor dem Kriege, dass nicht schon 1903 die Kommunisten, und wenn auch nur als kleine Sekte, sich zusammentaten und eine wenn auch kleine, so doch klare Schar bildete.32
Eine Partei, wie klein sie auch gewesen wäre, hätte es ermöglicht, dass sich die Revolutionär:innen über den strategischen Rahmen klar werden und ein eigenes Banner aufrichten.
Die Niederlage der Deutschen Revolution 1918/19 stellt eine historische Niederlage dar – die rote Welle, die in St. Petersburg ihren Anfang genommen hatte, brach in Berlin und rollte zurück. Was Hunter S. Thompson über die Rebellion von 1968 (wenn auch von einem gegenkulturellen, dezidiert apolitischen Standpunkt) schrieb, trifft mit kleinen Anpassungen zu:
[Wir hatten] dieses Gefühl, der Sieg über die Kräfte des Alten und Bösen sei unausweichlich […]. Hinter uns stand die Naturgewalt; wir ritten auf dem Kamm einer hohen und wunderschönen Welle… Und jetzt, weniger als fünf Jahre später, kannst du auf einen steilen Hügel in Las Vegas klettern und nach Westen blicken, und wenn du die richtigen Augen hast, dann kannst du die Hochwassermarkierung fastsehen– die Stelle, wo sich die Welle schließlich brach und zurückrollte.33
Nur ging der Blick von Berlin aus nach Osten.
Eine Lehre für 2025
So gelangen wir nach einem langen historischen Ausflug zu den heutigen Debatten unter revolutionären Marxist:innen in Deutschland, über einhundert Jahre später. 15 Jahre lang waren die meisten Gruppen, die sich dem revolutionären Marxismus zugehörig fühlen, Teil einer reformistischen Partei: DIE LINKE. Obwohl sich die Partei nun in einer finalen Krise befindet, hat bislang nur eine dieser Gruppe zu einem klaren Bruch aufgerufen.
Die Argumente für einen Beitritt zur Linkspartei sind mehr oder weniger identisch zu jenen, die Luxemburg und Jogiches 1917 für einen Beitritt zur USPD vorgebracht haben: Revolutionär:innen müssen bei den Massen bleiben und sie nicht der Führung reformistischer Bürokrat:innen überlassen. Die Rechnung der Spartakist:innen war, dass die inhärenten Widersprüche des Reformismus die Mitglieder der USPD in die Arme der revolutionären Opposition treiben würden.
Die Widersprüche des Reformismus führen vor allem zu Verwirrung und Demoralisierung. Es gibt keinen automatischen Prozess, der die Massen zu revolutionären Schlussfolgerungen führt. Revolutionär:innen fällt es deutlich schwerer, den Massen dabei zu helfen, die richtigen Schlüsse aus dem Verrat der Reformist:innen zu ziehen, wenn die Revolutionär:innen sich als der linke Flügel des Reformismus präsentieren.
Die Position von Luxemburg, Jogiches und ihren Genoss:innen zur Parteifrage ist grundlegend zentristisch. Es ist dieselbe Position, die wir 1968 im deutschen Trotzkismus wiederfinden, der (schon wieder!) verhängnisvoll in der SPD verborgen war. Es ist dieselbe zentristische Gewohnheit, die viele Trotzkist:innen 15 Jahre lang – und viele auch heute noch – in die Linkspartei geführt hat. Zentrist:innen fürchten, sich von den Massen zu isolieren. Doch sobald es zu Aufruhr kommt – und besonders in einer revolutionären Situation – sind es jene Gruppen, die sich von den radikalisierten Massen isolieren.
Die Linkspartei war immer schon deutlich rechter, als es die USPD jemals war. Hunderttausende Arbeiter:innen strömten in die unabhängige Sozialdemokratie, um für eine sozialistische Revolution zu kämpfen. Bereits 1920 sprach sich eine deutliche Mehrheit der USPD-Mitglieder für den Kommunismus aus und fusionierte mit der KPD. Die Linkspartei dagegen verharrt bei unter 60.000 Mitgliedern, darunter viele Rentner:innen und auch Bürokrat:innen, die den kapitalistischen Staat mitverwalten. Die Partei hatte nie einen Masseneinfluss, erst recht nicht in der Arbeiter:innenklasse. Seit der Abspaltung Sahra Wagenknechts ist dieser Einfluss noch geringer. Luxemburgs Fehler war nicht unvermeidlich, aber in der historisch neuen, chaotischen Situation nachvollziehbar. Heutige Kommunist:innen, die sich größeren Einfluss durch anhaltende Unterstützung der Linkspartei versprechen, können nicht auf diese Ausrede zurückgreifen — sie müssten es gerade durch die Erfahrung Luxemburgs wissen.
Es ist kein Verrat eines Prinzips, für eine kurze Zeit einer reformistischen Partei beizutreten, um Menschen vom Reformismus loszubrechen. Doch wie Karl Radek vor über einem Jahrhundert geschrieben hat, kann es nur bedeuten, dass eine Strömung ihr Programm in der Öffentlichkeit nicht vorstellt, wenn sich zwei unvereinbare Strömungen als dieselbe Partei darstellen.
Rosa Luxemburg erklärte bekanntlich, dass Reform und Revolution nicht einfach zwei verschiedene Wege zum gleichen Ziel sind, sondern auch ganz verschiedene Ziele. In ihrem meisterhaften Aufsatz34 zog sie allerdings nicht die notwendige Schlussfolgerung: Diese zwei verschiedenen Ziele brauchen zwei getrennte Parteien.
Fußnoten
- 1. Karl Marx und Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Dies.: Werke, Band 4, Dietz Verlag, Berlin 1959, S. 459-493, hier: S. 474. Online: http://www.mlwerke.de/me/me04/me04_459.htm [18. Dezember 2024].
- 2. Resolution des II. Weltkongresses der Komintern über die Aufnahmebedingungen, 6. August 1920. Online: https://www.1000dokumente.de/Dokumente/Resolution_des_II._Weltkongresses_der_Komintern_%C3%BCber_die_Aufnahmebedingungen [18. Dezember 2024].
- 3. Leo Trotzki: Spanische Lehren. Eine letzte Warnung (1937), Kleine Bibliothek der Kommunistischen Korrespondenz, Berlin 1976. Online: https://bolshevik.org/deutsch/archiv/leo_trotzki_spanische_lehren_1937.html [18. Dezember 2024].
- 4. Leo Trotzki: Klasse, Partei und Führung. Warum wurde das spanische Proletariat besiegt, in: Ders.: Der Spanische Bürgerkrieg, Band 2, 1936-1939, ISP-Verlag, Frankfurt am Main 1975. Online: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1940/xx/klasse.html [18. Dezember 2024].
- 5. Kommunistische Partei Deutschlands (Spartakusbund) (Hg.): Bericht über den Gründungsparteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund) vom 30. Dezember 1918 bis 1. Januar 1919, o.O. o.J. Online: https://www.marxists.org/deutsch/geschichte/deutsch/kpd/1918/index.htm [18. Dezember 2024].
- 6. Florian Wilde: Revolution als Realpolitik. Ernst Meyer (1887–1930) – Biographie eines KPD-Vorsitzenden, UVK Verlag, Konstanz 2018, S. 40-42.
- 7. Rosa Luxemburg an Kostja Zetkin, 2. August 1914, in: Dies.: Gesammelte Briefe, Band 5, Dietz Verlag, Berlin 1987, S. 7f.
- 8. Raya Dunayevskaya: Rosa Luxemburg. Frauenbefreiung und Marx‘ Philosophie der Revolution, Aus dem Amerikanischen von Thomas Laugstien, Argument-Verlag, Hamburg 1998, S. 70.
- 9. Rosa Luxemburg an Henriette Roland-Holst, 11. August 1908, in: Dies.: Gesammelte Briefe, Band 6, Dietz Verlag, Berlin 1993, S. 177. Zit. nach: Dunayevskaya: Luxemburg, S. 70.
- 10. W.I. Lenin: Lage und Aufgaben der sozialistischen Internationale, in: Ders.: Werke, Band 21, Dietz Verlag, Berlin 1960, S. 22-28, hier: S. 27f.
- 11. Riccardo Altieri: „Antifaschisten, das waren wir…“. Rosi Wolfstein und Paul Frölich. Eine Doppelbiografie, Büchner-Verlag, Marburg 2022, S. 101.
- 12. Rosa Luxemburg an Clara Zetkin, 12. Juni 1916, in: Gesammelte Briefe, Bd 5, S. 124.
- 13. Rosa Luxemburg: Offener Brief an Gesinnungsfreunde, in: Dies.: Werke, Band 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag, Berlin 2000, S. 235. Online: https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-4/seite/235 [18. Dezember 2024].
- 14. Gerhard Engel: Johann Knief. Ein unvollendetes Leben, Karl Dietz Verlag, Berlin 2011, S. 297.
- 15. Die Schicksalstunde der Partei, Der Kampf, Nr. 43, 17. März 1917, Beilage, S. 2. Dieser Artikel ist lediglich mit einem Sternchen (*) gezeichnet worden. In der Literatur wird sie immer wieder als Werk Rosa Luxemburgs zitiert, so in Texten aus den Jahren 1921, 1939, 1971, 1982, darunter auch im mehrfach zitierten Artikel von Walter Held. Der neuesten Forschung zufolge sind jedoch Luxemburgs Artikel in Der Kampf mit einem Schützen-Zeichen gekennzeichnet. Es ist daher nicht klar, von wem der Text stammt. Wir benutzen das Zitat dennoch, weil es über ein Jahrhundert lang als Luxemburg-Artikel gelesen wurde und ihrer Position entspricht. Dank für diesen Hinweis gebührt Wolfram Klein.
- 16. Karl Radek: Unterm eigenen Banner, Arbeiterpolitik, 17. Februar 1917. Online: https://sozialistischeklassiker2punkt0.de/sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/radek/radek-gegen-zentrismus/karl-radek-unterm-eigenen-banner.html [18. Dezember 2024].
- 17. o.A.: Vor der Entscheidung, Arbeiterpolitik, 10. März 1917.
- 18. Leo Jogiches: Brief an die Württemberger Genossen, zit. nach: Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution, Internationaler Arbeiter-Verlag, Berlin 1929, S. 147f.
- 19. Engel: Knief, S. 301.
- 20. Altieri: Antifaschisten, S. 104.
- 21. Fritz Globig: Aber verbunden sind wir mächtig. Aus der Geschichte der Arbeiterjugendbewegung, Verlag Neues Leben, Berlin 1958, S. 146.
- 22. Walter Held: Die deutsche Linke und der Bolschewismus, Unser Wort, Februar 1939.
- 23. Engel: Knief, S. 297.
- 24. W.I. Lenin: Über die Junius-Broschüre, in: Ders.: Werke, Band 22, Dietz Verlag, Berlin 1960, S. 310-325. Online: http://www.mlwerke.de/le/le22/le22_310.htm [18. Dezember 2024].
- 25. Engel: Knief, S. 297.
- 26. Paul Frölich: Im radikalen Lager. Politische Autobiographie 1890 – 1921, Herausgegeben und mit einem Nachwort von Reiner Tosstorff, BasisDruck Verlag, Berlin 2013, S. 130.
- 27. Rosa Luxemburg: Auf die Schanzen, in: Werke, Band 4, S. 450-454, hier: S. 454. Online: https://www.rosalux.de/stiftung/historisches-zentrum/rosa-luxemburg/auf-die-schanzen [18. Dezember 2024].
- 28. Radek: Unterm eigenen Banner.
- 29. Rosa Luxemburg: Die Ordnung herrscht in Berlin, in: Werke, Band 4, S. 531-536, hier: S. 536. Online: https://www.rosalux.de/stiftung/historisches-zentrum/rosa-luxemburg/die-ordnung-herrscht-in-berlin [18. Dezember 2024].
- 30. Held: Die deutsche Linke und der Bolschewismus.
- 31. Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution, S. 163f.
- 32. Paul Levi: Der Parteitag der Kommunistischen Partei, Die Internationale, 1. Dezember 1920, S. 41. Zit. nach: Pierre Broué: Die Deutsche Revolution, Band 1: Von der Spaltung der Sozialdemokratie zur Märzaktion 1921, Manifest Verlag, Berlin 2023, S. 433.
- 33. Hunter S. Thompson: Angst und Schrecken in Las Vegas. Eine wilde Reise in das Herz des Amerikanischen Traumes, Aus dem Amerikanischen von Teja Schwaner, Wilhelm Heyne Verlag, München 2005.
- 34. Rosa Luxemburg: Sozialreform oder Revolution? Mit einem Anhang: Miliz und Militarismus, in: Dies.: Gesammelte Werke, Band 1.1, Karl Dietz Verlag, Berlin 2007, S. 367-466. Online: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1899/sozrefrev/ [18. Dezember 2024].