Delegitimiert und diffamiert: Wie [’solid] Antikolonialismus zum Feindbild macht

03.06.2025, Lesezeit 9 Min.
Gastbeitrag

Der Bundessprecher:innenrat der Linksjugend ['solid] fällt mit zionistischen Statements auf. Dagegen gibt es Widerstand. Ein Gastbeitrag der Linksjugend ['solid] Potsdam.

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Foto: nitpicker / shutterstock.com

Am 30. Mai 2025 veröffentlichte die Linksjugend [’solid] ein Statement zum Anschlag auf Mitarbeitende der israelischen Botschaft in Washington D.C. – ein Statement, das sich nicht nur durch eine gefährliche Pauschalisierung auszeichnet, sondern auch durch eine eklatante Blindheit gegenüber kolonialen, rassistischen und imperialen Gewaltverhältnissen.

Doch was genau ist passiert? 

Am 21. Mai 2025 ereignete sich in Washington, D.C., ein tödlicher Angriff auf zwei Mitarbeitende der israelischen Botschaft. Gegen 21:08 Uhr wurden Yaron Lischinsky (30), ein deutsch-israelischer Staatsbürger, und Sarah Lynn Milgrim (26), eine US-amerikanische Jüdin, vor dem Lillian & Albert Small Capital Jewish Museum erschossen. Der mutmaßliche Täter, Elias Rodriguez (31) aus Chicago, wurde von der Polizei am Tatort festgenommen, trug eine rote Keffiyeh und rief während seiner Festnahme: „Free, free Palestine!“ 

Rodriguez bekannte sich laut Polizeiangaben zur Tat und gab an, sie aus Solidarität mit Gaza und als Protest gegen die israelische Politik begangen zu haben. Kurz vor dem Angriff veröffentlichte er ein Manifest mit dem Titel „Escalate For Gaza, Bring The War Home“, in dem er Israel als „genozidalen Apartheidstaat“ bezeichnete und die US-amerikanische Unterstützung für Israel kritisierte. Er äußerte darin, dass gewaltsamer Widerstand gegen Israel eine legitime Form des Protests sei, insbesondere angesichts der anhaltenden Gewalt im Gazastreifen. 

Seine Tat war nach eigenen Aussagen direkt gegen Mitarbeiter*innen der israelischen Botschaft gerichtet, nicht explizit jüdischen Menschen. Zusätzlich hatte eines der Opfer, Yaron Lischinsky, zuvor Tweets des israelischen Botschafters geteilt¹, die die Kindersterblichkeit in Gaza relativieren, die Angaben der UN anzweifeln und ihnen Hamas Komplizenschaft unterstellen. Was ein weiteres mögliches Motiv des Täters darlegen soll. 

Kurz nach dem Anschlag veröffentlichte die Bundesebene der linksjugend [’solid] ein ausführliches, neun Seiten langes Statement auf Instagram²

In ihrer öffentlichen Stellungnahme interpretiert die [’solid]-Bundesebene den Vorfall nicht nur als einen antisemitischen Mordanschlag, sondern auch als eine Zäsur für die Linke insgesamt. Sie ordnet ihn als Folge einer zunehmenden ideologischen Verrohung ein. Insbesondere eines „Hasses auf Israel“ und „Zionist*innen“, der laut der Bundesebene „mörderisch geworden“ sei.

Sie beginnen mit einem Verweis auf den RIAS (Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus) Bericht, der eine Verdopplung antisemitsicher Vorfälle im Jahr 2024 zeigt. 

Bereits die Entscheidung, mit einem Verweis auf den RIAS Bericht in die Argumentation einzusteigen, zeigt eine vorweggenommene Rahmung des Geschehenen: Es wird suggeriert, dass es sich beim Vorfall vom 21. Mai um eine antisemitische Tat gehandelt habe, obwohl bereits feststand, dass die Handlung der Person aus antizionistischer, antikolonialer Grundhaltung motiviert war und sich gegen die symbolische Repräsentation des israelischen Staates und seiner Gewaltpolitik richtete und nicht aufgrund einer allgemeinen Feindschaft oder Hasses gegenüber Jüd*innen³*.

Sie entschieden sich bewusst dazu, einen Bericht zu nutzen, welcher bereits seit Jahren von antikolonialistischen Gruppen kritisiert wird, da er dazu neigt, jede Kritik an der israelischen Regierung, an Zionismus oder auch jüdischen Instituten als Antisemitismus zu klassifizieren, was per se auch sein kann, jedoch ohne politische oder historische Kontexte zu analysieren. Damit wird Antisemitismus nicht als ein strukturelles Problem von rassistischem, nationalistischem oder verschwörungsideologischem Gedankengut erfasst, sondern zunehmend als Meinungskriminalisierung gegenüber linker, antikolonialer oder internationalistischer Politik verwendet.

Desweiteren kritisierten sie explizit die antiimperialistische Linke und einen Teil der Palästina-Solidaritätsbewegung, antisemitische Narrative zu verbreiten und ordneten Parolen wie: „Globalize the Intifada” oder „Zionists not welcome“, als Ausdruck antisemitischer Vernichtungsphantasien ein. Da solche Ausdrücke auf Palästina-solidarischen Demos Alltag sind, behauptet die Bundesebene, dass die von ihnen sogenannte „selbsternannt antiimperialistische Szene“, antisemitische Gewalt nicht nur dulde, sondern sogar rechtfertigt oder offen unterstützt.
Hier wird ein direkter Zusammenhang zwischen Palästina-Solidarität und antisemitischer Gewalt gezogen, während nötige historische Einordnungen der Begriffe „Zionismus“ oder „Intifada“ komplett fehlen. 

Anschließend behauptet sie im Statement, Kritik an Israel sei natürlich „legitim“, unterstellen jeglicher Kritik jedoch im selben Beitrag die mögliche Verschleierung aufgrund antisemitischer Motive. 

Zuletzt setzten sie einen Appell an die Linke. Sie müssen sich ihrer Verantwortung stellen, antisemitische Tendenzen in den eigenen Reihen klar erkennen und sich verpflichten, sie zu bekämpfen. Das ist ein Punkt, dem unserer Meinung nach niemensch erstmal widersprechen kann. Jedoch ist es von unserer Seite aus genau hier wichtig, dass benannt wird, nach welcher Definition von Antisemitismus wir diesen Kampf beginnen.

Dem Statement nach, scheint sich die Bundesebene hier der IHRA Definition zu richten. Eine Definition, die für ihre unwissenschaftliche Eigenschaft und starke Gleichsetzung der jüdischen Bevölkerung mit dem Staat Israel in internationaler Kritik steht. 

Stattdessen sollte sich die Bundesebene, wie auf dem 16. Bundeskongress im Februar 2024 beschlossen, zur wissenschaftlich aufgearbeiteten JDA Definition bekennen, nach dieser inner-strukturell handeln und diese in Veröffentlichungen zu bezogenen Themen auch benennen! 

Doch kommen wir nun zu unserer Analyse des Statements. 

Das Statement diffamiert Antizionismus pauschal als antisemitisch. Damit wird nicht nur reale antizionistische Kritik verunglimpft, es etabliert auch einen Begriff von Antisemitismus, der in seiner Rückgratlosigkeit letztlich jede Kritik an einem Staat delegitimieren soll. Einem Staat, der seit seiner Gründung im Rahmen eines siedler-kolonialistischen Projekts durch systematische Enteignung, Vertreibung und Gewalt gegen die palästinensische Bevölkerung gekennzeichnet ist.

Besonders deutlich wird dies im aktuellen Vorgehen der israelischen Regierung gegen die Bevölkerung in Gaza, die den 7. Oktober als Vorwand nahmen, im Rahmen der „Selbstverteidigung“ ihren genozidalen Vernichtungskrieg (international als Völkermord benannt) und die damit vollständige Besetzung (welche am 05. Mai durch Premierminister Benjamin Netanjahu öffentlich bestätigt wurde) zu vollenden.  

Diese Gleichsetzung wie hier von der Bundesebene getätigt, ist nicht nur historisch falsch, sondern politisch gefährlich:

Der getötete israelische Diplomat hatte sich öffentlich für den Stopp humanitärer Hilfslieferungen nach Gaza eingesetzt. Auf sozialen Netzwerken sprach er sich gegen Waffenpausen aus, relativierte die Hungersnot und verteidigte die Besatzungspolitik Israels.

Dass er zum Ziel eines politisch motivierten Anschlags wurde, ist im Kontext der extremen Eskalation im Gazastreifen ein Ausdruck davon, wie sich antikoloniale Gewalt auch gegen die Repräsentant*innen kolonialer Gewalt richtet. Die Ermordung von Zivilist*innen ist in allem Maße zu kritisieren und muss dennoch politisch eingeordnet werden.

Das Statement der Bundesebene tut das Gegenteil: Es isoliert die Tat, pathologisiert ihre Motivation („Hass“) und reiht sich damit ein in den ideologischen Apparat der deutschen Staatsräson. Die Bundesebene schweigt seit Monaten zu Massakern, Bombardierungen, zur Siedlungspolitik, zum Hunger – aber spricht von „Patronen aus Parolen“, wenn es gegen Vertreter*innen dieses Regimes geht.

Auch der auf das Statement folgende Beitrag (welcher bereits im Vorhinein in Planung stand), spricht von „Krieg in Israel und Palästina“, während ein Volk systematisch ausgehungert, verdrängt und ermordet wird. 

Solche Positionen sind untragbar. Es braucht einen Jugendverband, der sich angesichts der katastrophalen Lage in Gaza konsequent antizionistisch und in Solidarität mit dem palästinensischen Volk positioniert. Für die Vermischung von Antizionismus und Antisemitismus darf kein Platz sein. Der Bundessprecher*innenrat hat klar gezeigt, dass sie dazu nicht gewillt sind. Die entsprechende Konsequenz kann nur ihr Rücktritt sein.

Viele solidarische Basisgruppen hatten schon den richtigen Impuls, die Äußerungen des Bsp:r zu kritisieren und gemeinsame Statements zu verfassen. Es ist notwendig, diese Initiativen zusammenzuführen und sich in Zukunft auch bundesweit zu vernetzen, um wirkungsvoll den Kampf für eine konsequent palästina-solidarische Jugend zu führen!

Daher schlagen wir vor: 

1. Kein Antisemitismusbegriff als Herrschaftsinstrument. Antisemitismus ist real, gewaltvoll, mörderisch, aber er beginnt nicht mit Kritik am Staat Israel. Wer Antizionismus mit Antisemitismus gleichsetzt, verwässert diesen Begriff, leugnet Historie und entwaffnet die radikale Linke.

2. Solidarität mit allen Unterdrückten! Auch mit Palästina. Wir fordern eine klare internationalistsiche, antikoloniale, antiimperialistische Positionierung gegen Besatzung, Apartheid, Vertreibung und Genozid. Diese Position ist nicht antisemitisch, sie ist notwendig.

3. Stärkung jüdisch-antizionistischer Stimmen. Jüdische Linke und antikoloniale Bewegungen haben legitime Kritik am Zionismus, ihre Stimmen dürfen nicht marginalisiert, sondern sollten verstärkt dargestellt und gehört werden!

4. Politische Einordnung statt moralischer Empörung. Die Ermordung eines Staatsrepräsentanten ist nicht „der Terror an sich“, sondern muss im Kontext systemischer Gewalt betrachtet werden. Wer das ignoriert, steht nicht auf der Seite des Friedens, sondern auf der Seite der Ordnung.

5. Aufarbeitung und Rücknahme des Statements vom 30.05.2025. Die Position muss entweder grundlegend überarbeitet oder zurückgezogen werden. Es kann keine antifaschistische Linke geben, die sich mit dem Apartheidsstaat Israel solidarisiert. Außerdem braucht es mehr politische Rechenschaft des Bsp:r. Es muss möglich sein, Abstimmungen von der Basis zu initiieren, an die sich der Bundessprecher:innenrat halten und Post’s wie diesen entfernen muss.

6. Rücktritt des Bundessprecher:innenrats. Es braucht eine politische Führung, die Palästina-Solidarität vorantreibt statt sie zu sabotieren. 

7. Vernetzung aller palästina-solidarischen Kräfte. Es braucht eine Vernetzung aller antizionistischen und antiimperialistischen Kräfte in der [’solid], um gemeinsam bundesweit für eine palästina-solidarische Jugend zu kämpfen!

Solidarität ist kein Verbrechen.

Antizionismus ist kein Antisemitismus.

Antikolonialer Widerstand ist legitim.

Freiheit für Palästina!

³*Wir möchten hier nochmals festhalten, dass wir als linksjugend [’solid] Potsdam jeglichen Mord an Zivilist*innen aufs Schärfste kritisieren. 

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