Born this way? Queere Identitäten und Kämpfe im Kapitalismus

28.06.2022, Lesezeit 10 Min.
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Quelle: Left Voice

Welche Rolle spielt der Kapitalismus für das heutige Bild von Queer? Was können wir aus den Kämpfen von Stonewall lernen, wenn wir queere Befreiung erreichen wollen?

Dieser Artikel ist Teil der Reihe „Marxistische Perspektiven auf queere Befreiung“ und basiert auf dem Brot und Rosen Workshop vom 2. Juni 2022.

Oft wird gesagt, queere Personen verdienen die gleichen Rechte wie alle anderen, weil wir so geboren wurden. Auf eine gewisse Weise stimmt das auch – gleichgeschlechtliche Anziehung, fließende Geschlechter und Geschlechterrollen hat es in der Geschichte der Menschheit und in verschiedenen Kulturen schon immer gegeben. Dabei gibt es in der sozialen Rolle und sozialen Akzeptanz natürlich im Laufe der Zeit erhebliche Unterschiede. Beispielsweise gab es rituelle Rollen von sexuell gleichgeschlechtlichen Beziehungen in einigen Kulturen, in anderen Kulturen wurden nichtbinären Personen besondere Kräfte nachgesagt. Doch queere Identitäten, so wie wir sie heute kennen, sind eine Schöpfung der kapitalistischen Welt, in der wir leben. Das bedeutet, die moderne Rolle von queeren Menschen heute ist aus dem Kapitalismus und den damit einhergehenden materiellen Gegebenheiten hervorgegangen. 

Im vor-kapitalistischen Europa gab es schon Gesetze gegen beispielsweise „Sodomie“ oder Crossdressing, doch waren das eben Gesetze die einzelne Handlungen kriminalisierten und unter Strafe stellten und nichts, was gefestigte queere Identitäten mit sich brachte. In seinem Essay „Capitalism and Gay Identity“ schreibt der marxistische Theoretiker John D’Emilio, dass das kapitalistische Arbeitssystem der Auslöser war, der „einer großen Anzahl von Männern und Frauen im späten 20. Jahrhundert erlaubte, sich als schwul zu bezeichnen, sich selbst als Teil einer Gemeinschaft ähnlicher Männer und Frauen zu sehen, und sich politisch auf Basis ihrer Identität zu organisieren.“ Es wäre in diesem Sinne also nicht richtig, rückblickend Menschen in komplett anderen Kontexten und Kulturen als LGBTQIA+ abzustempeln, denn die moderne Rolle queerer Menschen ist aus dem Kapitalismus hervorgegangen. Zugleich ist sie jedoch nicht die einzige mögliche Rolle.

Die gängige heterosexuell-monogame Rolle ist ebenso eine Konstruktion, bestimmt durch materialistische Grundlagen, also durch das Verhältnis von Mensch zu Produktion. Das bedeutet, dass das System, welches bestimmt, wie wir die Lebensmittel bekommen, die wir essen, wie wir unsere Gemeinschaften organisieren und was wir mit dem Großteil unseres Tages machen, auch unsere sexuellen und geschlechtlichen Identitäten prägt. Im Vergleich zu vorkapitalistischen Zeiten hat der Kapitalismus eine neue Art von familiären Beziehungen hervorgebracht. Der Arbeitsplatz ersetzt das Haus als Produktionsstätte, Güter werden woanders produziert und gekauft, das Haus bleibt Ort für Reproduktion und Schaffung neuer Arbeitskräfte, also kochen, pflegen, erziehen. Durch diese Trennung in die öffentliche Sphäre (Produktion) und die private (Reproduktion) ist eine bestimmte Frauenrolle entstanden, in der Frauen für die unbezahlte Arbeit im Haushalt verantwortlich gemacht werden. Doch der Kapitalismus begnügt sich nicht mit der Ausbeutung einer Hälfte der Klasse in den Fabriken. Auch Frauen, und auch Kinder, arbeiten mit fortschreitender Industrialisierung zu schlechteren Löhnen in den Fabriken mit. Diese Lohndifferenz gibt es noch immer. So wird die Arbeitskraft von Frauen doppelt ausgebeutet: unbezahlt im Haushalt und schlecht bezahlt in der Produktion.

Heute leben wir in „modernen Demokratien“. In einigen Ländern sind Queers und Straighte Menschen frei und gleich – zumindest vor dem Gesetz. Diese Ideale von Freiheit und Gleichheit geben uns allen die Freiheit unsere Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt zu verkaufen. Freiheit und Gleichheit bedeuten keineswegs eine echte Freiheit und Gleichheit, sondern Rassismus, Sexismus und Queerfeindlichkeit, die gesetzlich verankert sind um vom Kapitalismus gebraucht werden oder wie wir besprochen haben, warum der Kapitalismus Sexismus braucht: um reproduktive Arbeit im Privaten auch unbezahlt zu lassen, braucht dieser auch Queerfeindlichkeit

Diese Ideale wirken sich auch auf die Konstruktion von Familie aus. Immer häufiger bildet die Basis von Partnerschaften zunehmend Kompatibilität und Begehren und nicht nur ökonomische Abhängigkeit.

Indem er den Haushalt seiner wirtschaftlichen Unabhängigkeit beraubte und eine Trennung von Sexualität und Fortpflanzung förderte, schuf der Kapitalismus Bedingungen, die es einigen Männern und Frauen ermöglichen, ein persönliches Leben um ihre erotische/emotionale Anziehung zu ihrem eigenen Geschlecht herum zu organisieren. (John D’Emilio – Capitalism and Gay Identity) 

Dies gilt nur für einen geringen Teil der queeren Menschen auf der Welt, insbesondere für Männer. Je ärmer und prekärer die Menschen leben, desto schwerer ist ein Ausbrechen aus der klassischen Familie, die als Einheit füreinander sorgt.

Queere Identitäten, so wie wir sie heute kennen, sind logischerweise durch die materiellen Umstände beeinflusst und durch den Kapitalismus geprägt. Immer wieder gibt es Kämpfe gegen diese kapitalistische Unterdrückung von queeren Identitäten.

Stonewall was a riot

Die Illusion, dass es heute keinen (Hetero- / Cis-)Sexismus mehr gäbe hat nicht nur was mit den erkämpften Rechten zu tun. Seit ungefähr 50 Jahren werden soziale Bewegungen in das herrschende System der bürgerlichen Demokratie eingebunden. Viele der großen NGOs sind mal gestartet als unabhängige Widerstandsgruppen und heute tief verstrickt in staatliche Politik. Parteien wie die Grünen geben solchen Bewegungen ihren parlamentarischen Ausdruck. Annalena Baerbock lobt aktuell die guten Beziehungen zur Türkei und will eine „feministische Außenpolitik“ vertreten, während Erdogan einen krassen Angriffskrieg auf Kurdistan führt, von dem wie in jedem Krieg, Frauen, Queers und Kinder am stärksten betroffen sind.

Damit ist eine Verschiebung im Ziel der Bewegungen einhergegangen: Es geht nicht mehr um die Zerschlagung der Ketten, die uns unterdrücken, sondern um Repräsentation und ein Stück vom Kuchen. Fortschritt sei also erreicht, wenn queere Politiker:innen auf den höchsten Posten sitzen. Der kollektive Kampf für Freiheit wurde so zu einem Konkurrenzkampf um individuelle Vorteile. Doch NGOs und staatliche Stellen sind nicht gleichzusetzen mit den Bewegungen. 

Einer der bekanntesten und wichtigsten kollektiven Kämpfe gegen die Staatsgewalt war Stonewall. Am 28. Juni 1969 begannen Aufstände in der Christopher Street in New York. Zum wiederholten Mal gab es eine Razzia im Stonewall Inn, einer Bar, die vor allem von queeren Schwarzen und Latinx besucht wurde. Vor 1965 war es üblich, dass die New Yorker Polizei die Identitäten aller Anwesenden bei derartigen Razzien erfasste und manchmal in der Presse veröffentlichte, mit verheerenden sozialen Folgen für die so zwangsweise Geouteten. Queere Personen wurden damals wie heute von der gewaltvollen Institution des kapitalistischen Staates schikaniert und unterdrückt. Doch an diesem Abend setzten sie sich dagegen zur Wehr. Michael Fader, ein Beteiligter an den Stonewall Riots, erinnert sich:

Da war dieses kollektive Gefühl: Wir hatten die Schnauze voll von dieser Scheiße. Es war nichts Greifbares; nichts, was man abgesprochen hatte. Es war mehr so, als ob alles, was die vergangenen Jahre passiert war, sich an diesem bestimmten Abend, an diesem bestimmten Ort, kristallisierte. Es gab keine organisierte Demonstration, wir wollten keinen gemütlichen Abendspaziergang, der den Cops nur eine weitere Chance geboten hätte uns zu drangsalieren – stattdessen haben wir ihnen die Stirn geboten, zum ersten Mal auf eine kämpferische Weise. Und das war unser Überraschungsmoment. Die Cops haben damit nicht gerechnet. Es lag etwas in der Luft – eine längst überfällige Freiheit, die wir entschlossen waren zu verteidigen. Es nahm verschiedene Formen an, doch wir hatten einen unausgesprochenen Konsens: Diesmal lassen wir uns nicht vertreiben. Und wir ließen uns nicht vertreiben.

Menschen wie Marsha P. Johnson und Sylvia Rivera haben die Stonewall-Proteste mit angeführt: trans Frauen of Color und Sexarbeiter:innen, die in permanenter Angst vor der Polizei leben mussten. Sie wollten sich nicht mehr dem System beugen, welches sie hasst. In einem zeitgenössischen Artikel wurde Stonewall wie folgt beschrieben: „Schwule und Lesben, Prostituierte, Kinder, die Ausbeutung und Gewalt von Mafia und Polizei erfahren haben – ihre Rache richtet sich gegen die Quelle der Unterdrückung.“ Sie warfen Steine auf die Polizei, zündeten Mülleimer an und kämpften gegen die Cops, um Festgenommene zu befreien.

Mark Segal, erinnert sich:

Wir waren in dieser Nacht so glücklich, zurück zu schlagen. Das haben wir nie zuvor getan… Wir hatten beschlossen, alle Ketten der Repression abzuwerfen. In dieser Nacht war die Polizei ein Symbol für die Unterdrückung durch die Religion, die Familie, die Kirche – für jeden einzelnen Teil der Gesellschaft, der uns hasste.

Über sechs Tage zogen sich in den Straßen Manhattans die Schlachten zwischen Polizei und LGBTQI+. Linke Gruppen, unter anderem Sektoren der Black Panther Party, die Young Lords und viele andere kamen und unterstützten.

Aus den Stonewall-Aufständen ging die Gay Liberation Front (GLF) hervor – eine Bewegung gegen die Polizei, staatliche Bevormundung, Kirche und patriarchale Familie.

Der GLF hat nicht nur für die Rechte von Homosexuellen gekämpft. In der GLF-Zeitung „The Rat“ (die Ratte) wurde der Geist der Bewegung zusammengefasst: 

Wir sind eine revolutionäre Gruppe von Homosexuellen, die aus folgender Erkenntnis heraus gegründet wurde: Eine vollständige sexuelle Befreiung für alle Menschen kann nicht ohne die Abschaffung bestehender sozialer Institutionen zustande kommen. […] Wir identifizieren uns mit allen Unterdrückten: Vietnam und der Dritten Welt, den Schwarzen, den Lohnabhängigen … all denen, die von dieser abscheulichen kapitalistischen Ordnung unterdrückt werden.

Und das war vielleicht eines der mächtigsten Dinge, die Stonewall hervor brachte – eine umfassende Kritik des gesamten Gesellschaftskonstrukts und der Wunsch, alle Leidtragenden gegen die Polizei und den kapitalistischen Moloch namens Vereinigte Staaten zu vereinen.

Doch heute ist dieser kämpferische Aspekt von Stonewall, dieser antikapitalistische Aspekt in Solidarität mit allen anderen Unterdrückten gemeinsam gegen den Ursprung der Unterdrückung und Ausbeutung zu kämpfen oftmals verdeckt durch krasses Pinkwashing und die Vereinnahmung queerer Identitäten. Konzerne versuchen, aus Pride Geld zu machen, und verlieren logischerweise kein Wort darüber, dass sich queere Unterdrückung nicht damit beenden lässt Prideflags auf Cop Uniformen zu drucken oder für genau einen Monat und keinen Tag länger das Instalogo des Konzerns in Regenbogenfahnen zu stecken.

Teile dieses Artikels basieren auf dem sehr lesenswerten Artikel „Queere Unterdrückung ist in das Herz des Kapitalismus gebrannt“, der zuerst bei unserer Schwesterseite Left Voice erschien.

Der zweite Teil dieses Artikels erscheint in den kommenden Tagen.

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