Debatte: Die Proteste gegen Stuttgart 21 und die Polizei

07.10.2010, Lesezeit 6 Min.
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Einleitung

In der letzten Woche haben die Proteste gegen das Projekt Stuttgart21 eine neue Qualität erreicht: Am 30. September räumte die Polizei den Schlossgarten und verletzte Hunderte DemonstrantInnen, einige davon schwer. Am Tag darauf demonstrierten bis zu 100.000 Menschen gegen S21 sowie gegen die Polizeigewalt.

Dennoch gehen die Abrissarbeiten am alten Bahnhof weiter. Es wird auf breiter Ebene eine Debatte darüber geführt, wie die Bewegung ihr Ziel – den Abbruch des S21 Baus – erreichen kann. Ein wichtiger Teil dieser Debatte ist die Frage, wie die DemonstrantInnen mit den Polizeikräften und deren Einsätzen umgehen sollten. Dazu hat die SAV (eine trotzkistische Organisation, die bei den Protesten eine wichtige Rolle spielt) bereits Position bezogen.

Unter der Überschrift „Wessen Stadt – unsere Stadt! Wessen Polizei – unsere Polizei?“ hat die SAV eine Debatte zwischen Peter Conradi (SPD) und Ursel Beck (SAV) in der neusten Ausgabe ihrer Zeitung veröffentlicht ( Solidarität Nr. 95, Oktober 2010, S. 11).

Den Beitrag von Conradi, der über die Gefühle der PolizistInnen und nicht über die Gesundheit der DemonstrantInnen besorgt ist („Wir alle wollen gemeinsam dafür sorgen, dass niemand von uns die Polizei beschimpft und beleidigt“) möchten wir angesichts der Gewaltorgie, die letzte Woche von Seiten der Polizei aus stattfand, nicht weiter kommentieren.

Doch auch die Contra-Position von Beck ist unserer Meinung nach unzureichend, und wir wollen mit einer „Contra-Contra-Position“ die marxistische Haltung zur Polizei beleuchten. Viele Elemente der SAV-Arbeit in Stuttgart finden wir richtig und unterstützenswert – etwa ihren Einsatz für Streiks gegen das Bauprojekt.

Wir begrüßen es sehr, dass die GenossInnen der SAV diese Debatte anstoßen. Unserer Meinung nach werden zu wenige Debatten innerhalb der Linken geführt. Im Rahmen einer solidarischen Diskussion unter allen S21-GegenerInnen (und besonders unter den MarxistInnen) wollen wir kurz unsere Position darstellen.

Contra-Contra

Die Genossin Ursel Beck beginnt ihren Beitrag mit den Worten: „Der Polizeiapparat ist ein Instrument zur Verteidigung der bestehenden Machtverhältnisse.“ Ihr Artikel – wenige Tage vor dem brutalen Polizeieinsatz veröffentlicht – sagt voraus: „es [wird] härtere Polizeieinsätze geben […]. Darauf muss sich die Bewegung einstellen.“

Das ist absolut richtig. Doch welche Schlussfolgerungen können wir daraus ziehen?

Die Genossin der SAV schlägt vor, „einen Keil in die Polizei zu treiben“, indem man die PolizistInnen dazu auffordert, ihren Einsatz zu verweigern. Sie gibt zu Bedenken, dass bei den Protesten gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf in den 80er Jahren rund 100 PolizistInnen gekündigt hätten.

Die Proteste in Wackersdorf dauerten allerdings mehrere Jahre. Immer wieder gab es Demonstrationen mit Zehntausenden Teilnehmenden und anschließenden Straßenschlachten. Immer wieder gab es Szenen wie letzte Woche in Stuttgart: Über die Jahre wurden insgesamt tausende DemonstrantInnen verletzt, von denen zwei in Auseinandersetzung mit der Staatsmacht sogar ihren Tod fanden (auch ein Polizist starb bei einem Hubschrauberabsturz).

Die Bauarbeiten mussten nicht wegen der Kündigung von 100 PolizistInnen sondern wegen der anhaltenden Rebellion eingestellt werden. Die 100, die kündigten, machten nur einen winzigen Bruchteil der Tausenden Bullen aus, die im Einsatz gegen diese Proteste eingesetzt wurden und ihren Dienst weiter fortführten.

Aber nicht nur die Proteste in Wackersdorf, sondern die gesamte Geschichte der ArbeiterInnenbewegung zeigt, dass die Polizei – bis auf einzelne, individuelle Ausnahmen – immer auf der anderen Seite der Barrikade steht. Während es öfters vorgekommen ist, dass viele SoldatInnen (v.a. diejenigen aus einer Armee von Wehrpflichtigen) sich einer revolutionären Bewegung anschließen, sind Bullen als BerufsbeamtInnen für ihr ganzes Leben an den bürgerlichen Staat gebunden. Deswegen sind sie trotz ihrer Lohnabhängigkeit keine „ArbeiterInnen in Uniform“.

Gerade angesichts der Situation auf dem Arbeitsmarkt können wir unsere Hoffnungen nicht darin setzen, dass Bullen massenhaft einen persönlichen Jobwechsel beschließen. Und ganz grundsätzlich halten wir das für keine Perspektive, um mit der Polizeigewalt im Hier und Jetzt fertig zu werden.

Stattdessen brauchen wir eine organisierte und massenhafte Selbstverteidigung der Demonstration, die mit Menschenketten, Fahnenstangen und ähnlichen Mitteln die Polizeiübergriffe abwehren kann. Auch militantere Formen der Selbstverteidigung sind möglich und nötig, wenn breitere Massen in einen solchen Kampf einbezogen werden können. Die Entwicklung des massenhaften Widerstands führt entsprechend der zunehmenden Repression über die Bildung eines eigenen Demonstrationsschutzes und von koordinierten Selbstverteidigungsgruppen bis hin zur Organisierung als Miliz.

Denn die Polizei ist eben ein „Instrument zur Verteidigung der bestehenden Machtverhältnisse“ und diese Institution muss – wenn wir andere Macht- und Produktionsverhältnisse haben wollen – zerschlagen werden. Nicht die Überzeugung der Polizei sondern ihr Zerbrechen ist der einzige Weg, um die kapitalistische Gesellschaft umzugestalten.

Uns ist bewusst, dass die Notwendigkeit einer gewaltsamen Revolution gegen den kapitalistischen Staat für viele Menschen eine unangenehme Vorstellung ist. Wir fänden es auch viel angenehmer, wenn die KapitalistInnen freiwillig auf ihre Macht verzichten würden – doch in der gesamten Geschichte der Menschheit hat das noch keine herrschende Klasse gemacht.

Der Revolutionär Leo Trotzki, auf den sich die SAV genauso wie wir bezieht, meinte dazu: „Um in der Lage zu sein, ernsthaften Widerstand zu leisten, müssen die Massen für diesen Kampf bewusstseinsmäßig, materiell und organisatorisch vorbereitet sein. Sie müssen die Unvermeidbarkeit eines immer heftigeren Klassenkampfes verstehen, und seiner Umwandlung, ab einem bestimmten Punkt, in den Bürgerkrieg.“

Wir denken, dass gerade die Polizeigewalt in Stuttgart gute Anhaltspunkte für RevolutionärInnen bietet, um den Charakter des kapitalistischen Staates anhand praktischer Beispiele zu erklären. Doch dafür müssen wir die Erkenntnisse des Marxismus in Bezug auf den Staat möglichst klar formulieren.

Es wäre wirklich schade, wenn die Tausenden Jugendlichen, die die Polizeigewalt aus nächster Nähe erlebt haben und jetzt einen „gesunden Klassenhass“ gegen die Bullen spüren, sich jetzt lediglich bei autonomen Gruppen organisieren würden, weil diese autonomen Gruppen die Wut der Jugendlichen direkt in praktische Aktionen zu übersetzen versuchen (während einige MarxistInnen sich damit beschäftigen, Flugblätter an die Polizei zu verteilen).

Wir sind der Meinung, dass wir als MarxistInnen diese Wut schüren und auch kanalisieren müssen, damit sich diese Wut nicht nur gegen einzelne PolizistInnen wendet sondern gegen den gesamten Repressionsapparat, der die Kapitalherrschaft durchsetzt, an sich. Dazu müssen wir theoretisch und (wenn möglich) auch praktisch aufzeigen, wie die Macht des Kapitals in Form der Polizei gebrochen werden kann – und das geht sicher nicht durch Streikaufrufe an Prügelbullen!

Siehe dazu auch „Sind Bullen ArbeiterInnen?“

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