Wiederum: Refugees Welcome ?!

18.09.2015, Lesezeit 4 Min.
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// JUSTIZ: Nach der Unterbrechung des Prozesses gegen einen Aktivisten, der im Juni 2014 an einer Mahnwache auf dem Pariser Platz teilgenommen hatte, wurde das Gerichtsverfahren am Dienstag zu Ende geführt. //

Der französische Botschafter als Zeuge in einem Strafverfahren? Oder etwa ein Vertreter von Amnesty International? Diese und weitere Anträge des Rechtsanwalts Sven Lindemann wurden vom Gericht komplett abgelehnt – bloß keine weitere Politisierung des Verfahrens. So beschränkten sich Staatsanwalt und Richter zunächst auf formaljuristische Begründungen zur Ablehnung der Anträge. Die Anhörung dieser Zeugen sei nicht zur Beweisfindung erforderlich. Überhaupt könne man sich nicht vorstellen, dass die Berliner Polizei angesichts der guten deutsch-französischen Beziehungen trotz Einverständnisses des französischen Botschafters mit der Mahnwache einen Räumungsbefehl anordnen würde. Aber fragen wollte man dann offenbar lieber doch nicht.

Auch die Heranziehung eine*r Vertreter*in von Amnesty International zur Beurteilung der polizeilichen Gewalt begeisterte das Gericht nicht sonderlich, weil die Wahrheitsfindung schließlich dem Gericht zukomme. So wurde die Antragsflut des Rechtsanwalts Lindemann schnell abgebügelt und die Schlussplädoyers gehalten. Das Ergebnis ist die Verurteilung des Angeklagten zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen und der Zahlung eines Schmerzensgeld in Höhe von 50 Euro an einen „betroffenen“ Polizisten.

„Unterstützenswertes Anliegen“

Die Ausführungen des Staatsanwaltes waren dabei erstaunlich positiv gegenüber dem Angeklagten. So musste er selbst eingestehen, auf den Videos keine Widerstandshandlungen des Angeklagten nach der Festnahme gesehen zu haben. Auch die zur Anzeige gebrachten Körperverletzungs- und Widerstandshandlungen seien auf einer sehr niedrigen Stufe anzusiedeln. Mit dem Hinweis jetzt „Off Topic“ zu sein, erklärte er weiterhin, dass er das Anliegen des Angeklagten, in Solidarität mit Geflüchteten zu demonstrieren, „unterstützenswert“ fände. Auch wirke der Angeklagte für ihn nicht wie ein „Krawallmacher“.

Folterähnliche Handlungen

Das Schlussplädoyer von Rechtsanwalt Lindemann war dann ein rechtlicher und politischer Rundumschlag. Er untermauerte die Unglaubwürdigkeit der Aussage des Polizisten am ersten Prozesstag, da dieser ein persönliches materielles Interesse an der Verurteilung des Angeklagten hatte. Schließlich wirkte sich die Auszahlung des Schmerzensgeldes direkt zugunsten des Polizisten aus. Weiterhin beschrieb er die polizeilichen Angriffe auf die Demonstrant*innen, wie Verdrehung von Körperteilen und Griffe in die Augen, als Folter, da sie lediglich dazu dienten, den Beteiligten Schmerzen zuzufügen.

Die Klassenjustiz schlägt zu

Die Verlesung des Urteils oder eher das Rumgestammel, was an Geschwindigkeit und Unverständlichkeit eher an die Verlesung polizeilicher Auflagen auf linken Demos erinnerte, war dann ähnlich haarsträubend – passte aber zum gesamten Prozessverlauf. Dem Polizisten stehe ein zugegeben geringes Schmerzensgeld von 50 Euro zu. Ohne jeglichen Beweis, aber der Richter konnte sich eben nicht „vorstellen“, dass der Polizist gelogen hätte … Zu den Vorwürfen, die polizeilichen Maßnahmen als Folter zu bezeichnen, wollte er sich nicht äußern, um es dann postwendend doch zu tun. Die polizeiliche Gewalt besonders gegen Geflüchtete als Folter zu bezeichnen relativiere die Gewalt, vor denen Geflüchtete aus ihren Heimatländern geflohen seien. Eine Argumentation, die in Anbetracht der imperialistischen Außenpolitik Deutschlands und der direkten Unterstützung von Regimes in Katar, der Türkei und Saudi-Arabien, an Zynismus kaum zu überbieten ist.

Aber dieser Zynismus der Justiz passt hervorragend zur Heuchelei der Regierung, die von „Willkommenskultur“ redet und so viele Abschiebungen wie noch nie vollzieht – natürlich mit tatkräftiger Unterstützung der bürgerlichen Justiz. Im Prozess wurde auch deutlich, dass Polizist*innen eben nicht wie andere Zeug*innen als Individualpersonen auftreten, sondern als Institution Polizei, also als bewaffneter Arm des Staates. Das zeigt sich an den Privilegien, die Polizist*innen vor Gericht zukommen, z. B. Zeugenaussagen vorbereiten können (was ja „normale“ Zeug*innen gerade nicht dürfen). In diesem Prozess war besonders haarsträubend, dass Cops trotz widersprüchlichster Aussagen grundsätzlich geglaubt wird (wie hier der Zuspruch von Schmerzensgeld ohne jeden Beweis).

Diese – und so viele andere Prozesse – zeigen immer wieder, dass kein Vertrauen in die Organe des bürgerlichen Staates gelegt werden kann.

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