Wie kann die Bewegung in der Türkei siegen?

04.07.2013, Lesezeit 4 Min.
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// Kurzer Bericht von den Diskussionsveranstaltungen von RIO in Berlin und München //

Seit Wochen gehen Millionen Menschen in der Türkei auf die Straße, um gegen die repressive Politik Recep Tayyip Erdogans und der AKP aufzubegehren. Ausgehend von einem ökologischen und kulturellen Protest gegen den Umbau des zentralen Istanbuler Gezi-Parks zu einer osmanischen Kaserne, die ein Einkaufszentrum beherbergen soll, breitete sich nach heftiger Polizeigewalt eine Welle der Solidarität und des Widerstands über die Türkei aus. Nachdem Erdogan am 16. Juni den Gezi-Park und den symbolträchtigen Taksim-Platz brutal räumen ließ, riefen die zwei größten Gewerkschaften zum eintägigen Generalstreik auf, zogen ihre FunktionärInnen jedoch am selben Tag von den Demonstrationen zurück. Die bisher kleinbürgerliche Bewegung befindet sich nun in einer kritischen Phase ihrer Entwicklung.

In den deutschen Großstädten finden längst zahlreiche Solidaritätskundgebungen für die kämpfenden Massen in der Türkei statt. „Überall ist Taksim! Überall ist Widerstand!“ sind ihre Parolen. Es ist höchste Zeit für einen Austausch über den Charakter und die Perspektiven der Bewegung. Im Rahmen einer Vortrags- und Diskussionsveranstaltung unter dem Titel Vom Taksim-Platz zum Umsturz? haben wir am 18. Juni an die Ludwig-Maximilians-Universität in München eingeladen, um gemeinsam darüber zu reflektieren. Etwa 35 Personen nahmen an der Veranstaltung teil, sowohl türkischer und kurdischer als auch deutscher Herkunft. Die selbe Veranstaltung fand am folgenden Tag in Berlin im Mehringhof statt, die etwa von 30 Personen besucht wurde.

Ausgehend von einer Charakterisierung der am Kampf um die Plätze und Straßen beteiligten Kräfte, führte der RIO-Aktivist Baran Serhad insbesondere aus, wie die AKP-Regierung als Vertreterin bestimmter Sektoren der Bourgeoisie, vor allem im Bausektor, gestützt auf einen klaren parlamentarischen Wahlsieg, ohne Rücksicht auf Verluste ihre Interessen umsetzt. Sie flankiert ihre wirtschaftsliberalen Maßnahmen mit einer repressiven Gesellschaftspolitik, die eine „religiöse Jugend“ heranziehen soll.

Die zunächst gegen die unmittelbaren Auswirkungen dieser Maßnahmen rebellierende Taksim-Bewegung hat mit der Versammlung der Massen gegen die Repression und der Ablehnung von Verhandlungen mit der Regierung zwar schon zwei qualitative Sprünge gemacht, ist aber nach wie vor kleinbürgerlich geprägt und „kopflos“. Kräfte wie die KemalistInnen versuchen bisher erfolglos, die Führung zu übernehmen. Die organisierte ArbeiterInnenklasse ist Teil der Bewegung, wird aber von der Gewerkschaftsbürokratie noch zurückgehalten. Um die Basis der AKP von ihrer Führung abzutrennen und die ArbeiterInnenklasse zu vereinen, müssen wirtschaftliche und soziale Forderungen in das Programm der Protestierenden aufgenommen werden. Ohne eine revolutionäre Führung durch eine Partei der ArbeiterInnen wird die Bewegung ihre Ziele nach Freiheit, würdigem Leben, und Demokratie nicht bis zum Ende führen können.

In der anschließenden Diskussion wurde über die Rolle der Gewerkschaftsbürokratie diskutiert, die mit taktischen Manövern die Radikalisierung der ArbeiterInnenklasse entgegentritt, um ihre privilegierten Position aufrechterhalten zu können. Sowohl in München als auch in Berlin wurde auf die Notwendigkeit des systematischen Eintritts der ArbeiterInnenklasse in den Kampf hingewiesen, da der Bewegung aufgrund ihres kleinbürgerlichen Charakters die Kraft und die Perspektive fehlt, den Kampf zu systematisieren und koordinieren. Es wurde auch festgestellt, dass die brutale Repressionen der AKP-Regierung aufgrund der Schwierigkeiten der türkischen Wirtschaft notwendig sind.

Die AKP-Regierung versucht, die Spannungen innerhalb der türkischen Bourgeoisie und die Probleme der türkischen Wirtschaft mit Bauprojekten und Steuererhöhungen zu überwinden. Da die AKP-Regierung nicht in der Lage ist, Zugeständnisse zu machen, versucht sie mit repressiven Methoden, die Proteste zu beseitigen. Außerdem wurde darüber diskutiert, welche Teile der Gesellschaft sich innerhalb der AKP-Basis befinden und wie sie erreicht werden können. Die Frage der Repression spielt zwar eine wesentliche Rolle, dennoch muss sich die Bewegung in erster Linie durch soziale Forderungen definieren, um die religiös gesinnte Basis von AKP-Regierung für sich gewinnen zu können.

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