Welche Strategie braucht die HDP?

30.09.2015, Lesezeit 5 Min.
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// Am 1. November finden Neuwahlen in der Türkei statt. Mit diesen Wahlen versucht der Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan erneut, die politische Macht in seinen Händen zu konzentrieren. In den kurdischen Teilen des Landes herrscht Krieg. Welche Strategie brauchen die Arbeiter*innen und Unterdrückten der Türkei, um aus dieser Situation herauszukommen? // Türkçe // Sınıfa Karşı Sınıf 1, Deutsch-türkische Beilage der Zeitschrift „Klasse Gegen Klasse“ //

Am Tag nach den Parlamentswahlen am 7. Juni herrschte eine hoffnungsvolle Stimmung in der Türkei: Die Alleinherrschaft der neoliberalen und autoritären AKP war nach 13 Jahren beendet. Der Staatspräsident und AKP-Chef Erdoğan bekam einen kräftigen Schlag ab. Die Demokratische Partei der Völker (HDP) schaffte trotz der undemokratischen Zehn-Prozent-Hürde den Einzug ins Parlament mit 80 Abgeordneten.

War dieses Wahlergebnis der Beginn einer Demokratisierung? Überhaupt nicht. Stattdessen hat Erdoğan das Land in einen neuen Krieg gestürzt. Leider war es der HDP nicht möglich, dagegen wirksamen Widerstand aufzubauen, weil sie allein mit parlamentarischen Mitteln gegen Erdoğans Kriegspläne vorging.

Schon vor den Wahlen hatte Erdoğan gedroht: „Gebt mir 400 Abgeordnete für die Umsetzung des Präsidialsystems. Dann lässt sich die Sache in Ruhe klären.“ Er scheut vor nichts zurück, um seine Macht zu behalten – auch nicht vor einem neuen Krieg gegen die kurdische Bewegung.

Und wie reagierte die HDP, Hoffnungsträgerin der meisten fortschrittlichen Sektoren? Die Partei distanzierte sich vom „Chaos“ – und damit distanzierte sie sich letztlich von den Massenmobilisierungen. Der strategische Fehler der HDP besteht darin, dass sie die eroberten „Stellungen“ (die Sitze im Parlament) nicht für weitere Offensiven nutze. Ihre Mandate waren keine Bühne für Kampagnen auf der Straße, wie für die Abschaffung der Zehn-Prozent-Hürde, die Aufhebung des Streikverbots, den Stopp der Privatisierungen oder das Ende der Unterstützung für „Islamischen Staat“. Stattdessen vertraute die HDP darauf, dass sie im Parlament Politik machen könnte.

Nur Massenmobilisierungen hätten die AKP vor der „militärischen Offensive“ abhalten und letztendlich der kurdischen Bewegung die Eroberung neuer Stellungen ermöglichen können. Doch die HDP wollte sich lieber als „fähiger Regierungsakteur“ beweisen. Die „Stabilität des Staates“ war ihre zentrale Sorge. Deswegen fiel es Erdoğan leicht, in den Krieg zu ziehen.

Ist der türkische Staat reformierbar?

Die kurdische Bewegung hatte große Hoffnungen in den „Friedensprozess“ gesetzt. Doch mit diesem Prozess hatte der türkische Staat kein anderes Ziel als die Vernichtung der kurdischen Bewegung und die Befestigung Nordkurdistans als innere Kolonie. Deswegen fiel es dem Erdoğan so leicht, diesen Prozess zu beenden.

Das neoliberale Modell von Erdoğan ist in eine Periode des Niedergangs eingetreten. Er ist gezwungen, in die militärische Offensive zu gehen. Innerhalb der türkischen Bourgeoisie existiert eine tiefe „Spaltung“ über das weitere Vorgehen. Mit einer „starken“ Alleinregierung will Erdoğan sich vor den imperialistischen Mächten wieder als loyaler Verbündete in der Region beweisen.

Es war eine Illusion, Erdoğans Krieg durch die Teilnahme an der Übergangsregierung aufhalten zu können. Zwei HDP-Minister haben das probiert, sind aber gescheitert und zurückgetreten. Die diktatorischen Tendenzen unter Erdogan lassen sich nicht im Kabinett oder am Verhandlungstisch bekämpfen.

Das Problem ist, dass die HDP versucht, sich gleichermaßen um die Interessen der Bourgeoisie und der Arbeiter*innen zu kümmern. Es praktiziert aber letztendlich nur eine Versöhnung zwischen Unterdrückten und Unterdrückenden. In der Phase des „parlamentarischen Aufschwungs“ der HDP wurden die Grenzen der parlamentarischen Strategie sehr offensichtlich.

Die radikale Alternative

Wie könnte eine revolutionäre Arbeit im Parlament aussehen? In Argentinien lehrt die Front der Linken und Arbeiter*innen (FIT). Diese Front wurde im Jahr 2011 von drei trotzkistischen Parteien gegründet und hat nun drei Abgeordnete im nationalen Parlament. Ihre Parlamentssitze stehen im Dienste der Kämpfe der Arbeiter*innen und Unterdrückten. Hier ist das Parlament also nur ein Mittel innerhalb einer revolutionären Strategie für die unabhängige Organisierung des Proletariats und für die soziale Revolution.

Gerade angesichts der viel schärferen Situation, die sich in Richtung eines Bürger*innenkriegs entwickelt, braucht die Linke in der Türkei eine revolutionäre Strategie. Die Neuwahlen finden im Schatten von Betrug und Repression statt. Die Lehre der letzten Phase ist, dass das Hoffen auf eine Demokratisierung allein durch den Einzug ins Parlament in eine Sackgasse führt.

Die Tendenzen hin zu einer Diktatur können nur durch die Mobilisierung der Massen in den Betrieben, Schulen und Universitäten bekämpft werden. Gegen die reaktionäre Verfassung der Militärdiktatur ist eine verfassunggebende Versammlung nötig. Unabhängig von der Bourgeoisie! Sie hat keinerlei Interesse an einer Demokratisierung des Landes.

Nur eine Regierung der Arbeiter*innen kann eine solche verfassungsgebende Versammlung organisieren. Genauso könnte sie das Recht der Selbstbestimmung des kurdischen Volkes garantieren. Denn wirkliche Demokratie wird es nur geben, wenn die Arbeiter*innen sich selbst organisieren und den bürgerlichen Staat zerstören.

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