Was ist Zentrismus?

28.09.2012, Lesezeit 6 Min.
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Frage:

Ich lese öfter in Euren Publikationen den Begriff Zentrismus. Was ist das?

Antwort:

Mit Zentrismus meinen MarxistInnen all jene Kräfte, die zwischen reformistischen und revolutionären Positionen schwanken. Der Begriff entstand als Bezeichnung eines Flügels innerhalb der SPD, das „marxistische Zentrum“ um Kautsky und Bebel, das zwischen dem rechten und dem linken Flügel schwankte. Zentristische Organisationen entstehen oftmals unter dem Druck von Massenradikalisierungen. So entstand in der revolutionären Welle nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland die USPD, die zwischen der SPD und der KPD schwankte und schließlich an ihrer eigenen Gegensätzlichkeit scheiterte. In den 30ern entstanden aus der Zweiten und der Dritten Internationale eine Reihe von zentristischen Organisationen, die mit dem Reformismus ihrer Mutterparteien gebrochen hatten, aber keine konsequent revolutionäre Politik entwickelten. Die Vorgängerorganisation der Vierten Internationale – die Internationale Linke Opposition – versuchte, durch Zusammenarbeit und gleichzeitiger scharfer Kritik solche zentristischen Kräfte für den Marxismus zu gewinnen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die trotzkistische Bewegung selbst zentristisch. Das spiegelte jedoch nicht so sehr den Gegensatz zwischen revolutionären Massen und einer reformistischen Führung wider, sondern eine starke Anpassung an die stalinistischen und reformistischen Apparate. Die Kräfte des trotzkistischen Zentrismus verzichteten auf zentrale Teile ihres eigenen Erbes und versuchten, den Trotzkismus mit verschiedenen Formen des Stalinismus (Titoismus, Guevarismus usw.), mit reformistischen Apparaten und kleinbürgerlichen Bewegungen zu versöhnen[1].

„Die drei Hauptströmungen der zeitgenössischen Arbeiterbewegung, Reformismus, Kommunismus und Zentrismus, ergeben sich mit Notwendigkeit aus der objektiven Situation des Proletariats im gegenwärtigen imperialistischen Regime der Bourgeoisie.“[2] Der Reformismus ist eine Strömung, die aus der privilegierten Oberschicht der ArbeiterInnenklasse hervorgeht und deren Interessen auf der Ebene der Ideologie zum Ausdruck bringt. Der Wohlstand in einem imperialistischen Land wie Deutschland ermöglicht einige Privilegien für die ArbeiterInnenklasse durch die Ausbeutung und Unterdrückung der imperialisierten Länder. Der Reformismus versucht diese Privilegien und das System, aus dem sie kommen, zu verteidigen. Demgegenüber ist eine revolutionär-marxistische, also trotzkistische, Politik auf den revolutionären Sturz der bürgerlichen Herrschaft ausgerichtet. Diese Politik stützt sich auf die bewusstesten und erfahrensten Teile der ArbeiterInnenklasse. Sie ist allerdings in nicht-revolutionären Zeiten eine Minderheit im Proletariat und wird auch als „Avantgarde“ bezeichnet.

Zwischen den beiden grundlegenden Polen der ArbeiterInnenbewegung bewegen sich viele Übergangsströmungen und –gruppierungen. Der Zentrismus vertritt politisch unentschlossene Teile im Proletariat und ist daher meist nicht langlebig. Trotzki schrieb: „Der Zentrismus mag nicht beim Namen genannt werden.“[3] Zentristische Gruppierungen ignorieren die Kategorie des Zentrismus und verdecken somit meist ihre eigene Haltung zu reformistischen und revolutionären Positionen. Der Reformismus behält in ruhigen Zeiten oft die Oberhand, jedoch besteht während einer Krise die Möglichkeit, dass die Massen sich revolutionären Kräften zuwenden. Während dieses Prozesses, vom reformistischen zu einem revolutionären Bewusstsein, traten historisch immer wieder Spannungen in den ArbeiterInnenparteien auf, die zu Abspaltungen führten. Während die Massen sich in ständiger Bewegung befanden, verkörperte der Zentrismus einen zeitlich beschränkten Moment auf diesem Weg. Das politische Konzept dieser Gruppierungen ist Ausdruck der halbherzigen Überwindung des Reformismus und bedeute letztlich das Fernhalten der Massen von revolutionären Positionen. Daher bedarf es einen besonderen Umgang mit diesen Kräften.

Es gibt auch in ruhigen Zeiten in verschiedenen Nuancen zentristische Kräfte. Sie sind Überbleibsel der historischen Krisen der ArbeiterInnenbewegung. Dennoch können diese zentristischen Kräfte erneut stärker werden, aber auch neue entstehen, was angesichts der weltweiten Krise eine reale Option darstellt.

Eine konsequente Überwindung des Reformismus kann nur mithilfe eines revolutionären Programms funktionieren, welches in der realen ArbeiterInnenbewegung seine Überlegenheit beweist. Dazu ist der Aufbau einer revolutionären Partei nötig, die eine sowjetische Strategie verfolgt und die Notwendigkeit der Machtübernahme der ArbeiterInnenklasse und der Etablierung einer Diktatur des Proletariats propagiert. Teil des Aufbaus einer solchen Partei ist die Fusion mit den fortgeschrittensten Teilen des Proletariats und der Jugend, wozu auch der Versuch gehört, sich im Zuge der politischen Entwicklung auf der Basis eines revolutionären Programms mit zentristischen Kräften, die sich nach links bewegen, zu vereinigen.

Trotzki beschrieb in seinem Werk „Der Zentrismus und die IV. Internationale“ einige Merkmale des Zentrismus: „Der Zentrismus ist theoretisch amorph und eklektisch; Er meidet nach Möglichkeiten theoretische Festlegungen und ist (in Worten) geneigt, der ‚revolutionären Praxis‘ gegenüber der Theorie den Vorzug zu geben, ohne zu begreifen, dass allein die marxistische Theorie der Praxis eine revolutionäre Richtung geben kann.“[4]

Da eben Zentrismus keine vollständige Überwindung des Reformismus ist, ist dieser geneigt, gegenüber der Gewerkschaftsbürokratie oder reformistischen Kräften eine diplomatische Beziehung aufzubauen. Anstatt die ArbeiterInnenklasse auf dem Weg zur Selbstaktivität zu begleiten, gehen zentristische Kräfte auf diplomatische Kompromisse ein. Dafür haben wir zum Beispiel die Gruppe „SAV“ bei den Streiks an der Berliner Charité kritisiert[5]. Die NPA in Frankreich ist ein modernes Beispiel des Zentrismus: sobald sie nicht unter revolutionärem Druck stehen, fallen sie in den Reformismus zurück.

Revolutionäre Organisationen sind ständig zentristischem Anpassungsdruck ausgesetzt. Notwendig ist deshalb eine ständige Auseinandersetzung mit dieser Gefahr der Anpassung. Revolutionäre MarxistInnen setzen deshalb auf die Selbstorganisierung der ArbeiterInnenklasse und setzen sich mit reformistischen und zentristischen Kräften auseinander – durch Zusammenarbeit und auch Kritik, um eine revolutionäre Politik jetzt und hier zu entwickeln.

Fußnoten

[1]. Für eine ausführliche Erklärung dieser Entwicklung, siehe den Artikel „An den Grenzen der bürgerlichen Restauration“ in Klasse Gegen Klasse Nr. 1.

[2]. Leo Trotzki: Was ist Zentrismus? In: Schriften 3.3. S. 285.

[3]. Leo Trotzki: Der Zentrismus und die IV. Internationale. Schriften 3.3. S. 524.

[4]. Ebd.

[5]. Siehe den offenen Brief „Welche Strategie in der ArbeiterInnenbewegung?“ in unserer Broschüre zum CFM-Streik.

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