Thüringen: Die Mär von der „linken Regierung“

08.12.2014, Lesezeit 9 Min.
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Es ist vollbracht. Die Linkspartei stellt ihren eigenen Ministerpräsidenten, „Bodo, den ersten.“ Allerlei Nebelkerzen über den „Unrechtsstaat DDR“ wurden vorweg gezündet, aber im zweiten Wahlgang stand fest: Ramelow ist Ministerpräsident von Thüringen, in Koalition mit der SPD und den Grünen. Der Schock in der bundesdeutschen Landschaft bleibt aus: „Heute ist kein historischer Tag“, verkündet Ramelow selbst in seiner Antrittsrede. Die ohnehin niedrigen Erwartungen der wenigen „Linken in der Linken“ möchte er unten halten, den Konservativen die Hand zur Versöhnung reichen.

So wirklich schockiert von der Vorstellung, „Die Linke“ könne einen Ministerpräsidenten stellen, war kaum ein Bourgeois. Sogar die rechtskonservative Welt meint, Antikommunismus hin oder her, die „Demokratie“ werde Ramelow „aushalten“. Die großbürgerlich-liberale ZEIT überschüttete Bodo Ramelow schon im Mai mit bezeichnenden Vorschusslorbeeren. Besonders entzückt war das Blatt von der Glaubwürdigkeit seiner Finanzierungsvorbehalte. Denn mit ihnen steht und fällt der „fortschrittliche“ Anspruch jeder „linken Regierung“, tatsächliche Reformen durchzuführen. Es liest sich wie eine Warnung an die ArbeiterInnenklasse, wenn die ZEIT den Kern des Koalitionsvertrags vorwegnimmt: „Was wird Ramelow tun? Die Landeshaushaltsordnung beachten.“ Jetzt, da Ramelow Realität ist, bekommen wir eine konkretere Vorstellung, was das bedeutet.

Prüfsteine der ArbeiterInnenklasse: Ein Blick in den Koalitionsvertrag

„Kleine und mittelständische Unternehmen bilden das wirtschaftliche Rückrat (sic) des Landes. Gleichfalls steht gut qualifiziertes Humankapital zur Verfügung“, beschreibt die thüringische Linkspartei ihre Stellung zu den Klassen in „Wahlprüfsteinen“ für den Wirtschaftsspiegel. Wir wollen unsere eigenen „Prüfsteine“ anlegen, die der ArbeiterInnenklasse, der Jugend und der Unterdrückten. Was hätte die Koalition ihnen zu bieten, würde sie ihre Reformversprechungen halten?

In der Geflüchtetenfrage schlägt eine große Nachricht ein: Ramelow wird bis Ende des ersten Quartals 2015 wegen des Winters ein Abschiebe-Moratorium erlassen. Dieser symbolische Schritt, den eine „linke Regierung“ gehen kann, wurde von einer seit 2012 immer aktiveren Geflüchteten-Bewegung gegen Abschiebung und Schikanen auf der Straße erkämpft. Wir werden seine Fortsetzung ebenso einfordern wie die vagen Versprechungen des Koalitionsvertrags für die Anerkennung im Ausland gemachter Abschlüsse. Wie groß aber kann das Vertrauen in die Geflüchtetenpolitik einer Regierung sein, die sich auf die bürgerliche Herrschaft stützt, die mit den Kriegs-, Abschiebungs- und Räumungsparteien SPD und Grüne koaliert?

Nicht nur im Winter bedeutet Abschiebung den Tod; die jahreszeitlich begründete Nicht-Abschiebung ist weit davon entfernt, eine „Reform“ zu sein. Erst wenn es in Thüringen eine rechtliche Garantie gegen Abschiebungen und Entrechtung Geflüchteter gibt, ist Ramelows Praxis eine Reform. Wir fordern die Regierung Ramelow daher auf, seine Ernsthaftigkeit in dieser Frage zu beweisen. Das bedeutet den Abschiebungsstopp in Thüringen rechtsverbindlich zu machen, sämtliche Lager abzuschaffen, Anerkennung für alle Geflüchteten zu gewährleisten sowie ihnen volle Bewegungsfreiheit und demokratische Rechte zu garantieren.

Den Thüringer Verfassungsschutz, wie kaum eine andere deutsche Behörde verstrickt in die NSU-Umtriebe, möchte die „Linkskoalition“ jetzt zusammen mit der nicht minder als rassistisch diskreditierten Polizei „reformieren“. Die Polizei soll sensibler und „migrantischer“ werden, der offene Rassismus mit Schulungen zurückgedrängt werden und das Parlament möchte die polizeilich-geheimdienstliche Überwachung stärker überwachen. Die neue Thüringer „Sicherheitsarchitektur“ werde „Schluss machen mit einem intransparenten und unzuverlässigen V-Leute-System“ (Präambel des Koalitionsvertrags). Der Verfassungsschutz möge deshalb auf seine bisherige V-Leute-Praxis, die faschistische Gruppen um den NSU de facto querfinanzierte, verzichten, so die Punkte zur Innen- und Rechtspolitik.

Doch wie soll ein Geheimdienst „transparent“ sein, welcher gesellschaftlichen Klasse gilt seine „Zuverlässigkeit“? Das Schweigen gibt die Antwort. Von der ehemaligen linken Forderung nach Abschaffung des Landesamts für Verfassungsschutz war schon in den Verhandlungen zum Koalitionsvertrag nicht mehr die Rede. Zur Einstellung oder Verurteilung der Repression gegen links kein Wort. Stattdessen verständigen sich „Die Linke“, SPD und Grüne darauf, „nicht mit Organisationen, die das DDR-Unrecht relativieren, zusammenzuarbeiten“ (Grundsätze der Zusammenarbeit); wir wissen nicht, ob darunter die Feststellung fällt, dass die DDR ein degenerierter ArbeiterInnenstaat war, aber wir merken die Absicht.

Kommen wir zur Gretchenfrage der „linken Regierung“, der Arbeits-, Wirtschafts- und Finanzpolitik: Im öffentlichen Dienst soll es einige kleinere Erleichterungen geben, aber keinen landesweiten öffentlichen Mindestlohn, der bisherige allgemeine Stellenabbau wird ebenfalls nicht rückgängig gemacht. Die angekündigte Neueinstellung von 500 LehrerInnen pro Jahr ist eines der wenigen echten Reformversprechen. Wir fordern selbstverständlich seine Erfüllung. Wir fragen uns aber auch, was mit einem Einsatz für eine Übernahmegarantie in der Ausbildung ist. Die Leiharbeit schließlich wird kritisiert, soll aber eher „zivilisiert“ als abgeschafft werden. Das Landesarbeitsmarktprogramm hingegen wird fortgeführt. Alles in allem verwaltet Thüringen auch weiterhin nichts anderes als das Elend von Hartz IV, das zu beenden die Linkspartei verspricht. Dessen zu geringen finanziellen Rahmen kritisierte sie vor der Wahl noch, jetzt muss sie selbst den „Finanzierungsvorbehalt“ schmackhaft verkaufen.

Ganz im Dunkeln bleibt, wo das große Sparen stattfinden soll, das kleinlaut unter dem Punkt „Nachhaltige Haushalts- und Finanzpolitik“ zugegeben wird. Aus den rot-roten Regierungen von Brandenburg und Berlin wissen wir, dass der öffentliche Sektor hier immer wieder leiden musste, die Privatisierung von Wohnungen im großen Stil war für den Berliner Senat kein Tabu. Auch den thüringischen „Koalitionspartnern ist bewusst, dass die Umsetzung der Maßnahmen unter dem Finanzierungsvorbehalt des Haushaltes steht. (…) Die (…) Schuldenbremse ist Maßstab für eine verantwortungsvolle Haushaltspolitik.“ Von den KapitalistInnen wird das Geld kaum kommen, früheren Tönen der Linkspartei von einer „Millionärssteuer“ zum Trotz; die heimische Industrie bilde schließlich den „Motor“ der thüringischen Entwicklung (Wirtschaft und Arbeit). Also von den ArbeiterInnen: Die möglichen Reförmchen werden wie in jeder „linken Regierung“ überschattet von der Kürzungsdrohung. Wir erwarten in Thüringen weitere Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse, die von sporadischen Brosamen nicht wieder gut gemacht werden.

Im Dienst des Kapitals: Was eine „linke Regierung“ machen kann

Der festgehaltene Finanzierungsvorbehalt der Koalitionsregierung ist freilich keine Überraschung: Schon im Wahlprogramm stellt die Linkspartei ans Ende ihrer sozialpolitischen Punkte die Einschränkung, sie wolle „trotz der Schuldenbremse dafür sorgen, dass unsere formulierten Ansprüche in die Realität umgesetzt werden können“. Umso erstaunlicher, dass Strömungen wie die SAV oder marx21 immer noch organisch in der Linkspartei arbeiten, ohne eine konsequente und öffentlich sichtbare Kritik an deren bürgerlichem Standpunkt zu üben. Die SAV fantasiert als Gegenkonzept zu Ramelow von einer Linkspartei, die mit einem „sozialistischen Programm (…) eine tatsächlich linke Regierung (bildet), die auch linke Politik betreiben wird.“ Was eine „tatsächliche linke“ bürgerliche Regierung auszeichnen soll, bleibt uns verborgen. Marx21 kritisiert richtigerweise den fehlenden staatlichen Mindestlohn oder die de facto Zustimmung zu TTIP durch Thüringen. Dann möchte sie aber „rote Haltelinien“ sehen, an deren „Grenze“ sich die Linkspartei angeblich bewege, die in der Realität allesamt schon lange von ihr überschritten wurden. So dürfe sie sich nicht an Regierungen beteiligen, „die Privatisierungen vornehmen, Sozialabbau betreiben, die Aufgabenerfüllung des Öffentlichen Dienstes verschlechtert oder Kriege führt und Kampfeinsätze der Bundeswehr zulässt“, letztere zumindest im Parlament. Die Geschichte der Linkspartei spricht hier für sich. Unsere Grenze verläuft nicht zwischen linken und rechten Regierungen – sondern zwischen bürgerlichen und ArbeiterInnenregierungen.

Die Pseudo-Versprechungen von Rot-Rot-Grün bedeuten wenig Gutes für die ArbeiterInnenklasse, junge Menschen, Geflüchtete. In linken Diskursen wird an Bodo Ramelow oder Ost-Landesverbänden der Linkspartei allgemein kritisiert, sie seien „nicht links genug“. Doch die fehlende „linke Authentizität“ eines hessischen Gewerkschaftsbürokraten wie Ramelow ist nicht die Schranke des Linksreformismus. Ramelow geht mit seinem bürgerlichen Kurs in einer Zeit der relativen Stabilität Deutschlands lediglich offensiv um. Die „linke Regierung“ selbst ist das grundlegende Paradox, das vom Finanzierungsvorbehalt gut illustriert wird: Die Eigentumsverhältnisse bleiben notwendig unangetastet, die RegierungssozialistInnen können den Kapitalismus lediglich verwalten; mit Verweis auf Werkzeuge wie die „Schuldenbremse“ sind nicht einmal echte Reformen noch zu erwarten.

Die Aufs und Abs der Konjunktur sind für die Linkspartei übersinnliche Kräfte, das Privateigentum an Produktionsmitteln ein Naturgesetz. Die „linke Regierung“ ist vor allem eins: eine Regierung des Kapitals. Der rötliche Schleier eines „linken“ Ministerpräsidenten wird das nicht lange verbergen können, wenn er es jemals wollte. Die Prekarisierung wird fortbestehen, es wird weiterhin „konjunkturell bedingte“ Entlassungen und Privatisierungen geben, die Geflüchteten wird man nach wie vor unterdrücken, die Überwachung der radikalen Linken und die Polizeirepression fortsetzen, während Nazis ihren sozialen Boden behalten. Das kann mit einer bürgerlichen Regierung auch gar nicht viel anders sein. Nur eine Regierung der ArbeiterInnen, die sich auf Räte stützt, kann noch Antworten auf die Krise des Kapitalismus geben. Sie kann nicht in bürgerlicher Wahl zwischen verschiedenen Übeln abgestimmt, nicht von einem bürgerlichen Parlament verabschiedet werden. Sie muss auf der Straße und in den Betrieben erkämpft werden, errichtet auf den Trümmern des bürgerlichen Staats.

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