Sowjetische Strategie: eine Einführung

05.05.2020, Lesezeit 20 Min.
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Eine Schlacht wird mit Taktik gewonnen. Strategie ist die Kunst, einen Krieg zu gewinnen. Wie kann die Arbeiter*innenklasse politische Macht gewinnen?

Die populärste Strategie der US-Linken trägt derzeit viele Namen: „Innen-Außen“, „schmutziger Bruch“ und „Neuausrichtung“. All diese Begriffe sind Kurzformen für die Idee, dass heutige Sozialist*innen einen fortschrittlichen Flügel innerhalb der Demokratischen Partei aufbauen und sich darauf vorbereiten sollten, irgendwann in ferner Zukunft mit den Demokrat*innen zu brechen. Diese Strategie basiert auf der Annahme, dass Sozialist*innen einen politischen Apparat der imperialistischen Bourgeoisie übernehmen und ihn in ein Instrument progressiver Veränderung verwandeln können. Dieser „Demokratischer-Sozialismus“ Plan ruft dazu auf, die Demokratische Partei zu übernehmen und dann den US-Staatsapparat schrittweise umzugestalten – bei jedem Schritt soll ein Werkzeug der Kapitalist*innen zu einem Werkzeug der Arbeiter*innen werden. Der „Demokratische-Sozialismus“ stellt sich eine Gesellschaft vor, die der Gegenwärtigen sehr ähnlich ist, nur mit mehr Sicherheit und Kontrolle für die arbeitende Bevölkerung.

Die zweitbeliebteste Strategie heißt „Basisaufbau“. Dieser eine Begriff umfasst viele verschiedene Ideen. Die Idee, dass sozialistische Organisationen Wurzeln in der Arbeiter*innenklasse schlagen müssen, ist natürlich wichtig und korrekt – aber kaum eine Strategie an sich. Sozialist*innen können Gemeinschaftsgärten, Suppenküchen oder Autowerkstätten organisieren, um ihre Nachbarschaft kennen zu lernen und diese Art des Organisierens kann wichtige Vorteile bringen, wie z.B. das Blockieren einer Zwangsräumung. Es gibt aber keinen Zusammenhang zwischen diesen Teilkämpfen und dem Ziel, Macht zu gewinnen. Organisationen, die sich auf Basisaufbau konzentrieren, fehlt gewöhnlich jede Art von gemeinsamer Strategie. Sie glauben, dass diese „Basen“ eines Tages genug wachsen werden, um den kapitalistischen Staat zu konfrontieren und zu ersetzen. Dies ist aber einfach eine andere Form des Gradualismus und ignoriert die Unvermeidbarkeit revolutionärer Situationen und die Notwendigkeit entscheidender Konfrontationen.

Wir stellen eine dritte Strategie vor, die wir Sowjet-Strategie nennen.[1] Das mag wie eine Anspielung auf die alte Sowjetunion klingen. „Sowjet“ ist allerdings das russische Wort für „Rat“. Wir beziehen uns also auf eine Strategie, die auf Arbeiter*innenräten basiert, wobei wir den Begriff verwenden, der durch die erfolgreichste sozialistische Revolution der Geschichte populär gemacht wurde: die Oktoberrevolution, die 1917 in Russland stattfand.

Sozialistische Strategie muss von der Voraussetzung starten, dass die Arbeiter*innenklasse die zentrale Protagonistin des sozialen Wandels ist. Arbeiter*innen haben die soziale Macht, alle anderen unterdrückten Sektoren im Kampf gegen den Kapitalismus zu vereinen. Zum ersten Mal in der Geschichte stellt die Arbeiter*innenklasse eine Mehrheit der Weltbevölkerung dar. Sie ist aber auch zersplitterter als je zuvor, sowohl was die materiellen Bedingungen als auch das politische Bewusstsein betrifft. Zur Arbeiter*innenklasse gehören nicht nur Industriearbeiter*innen: Arbeiter*in ist jede*r, der*die gezwungen ist, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, um zu überleben, da er*sie keine Produktionsmittel besitzt.

Es wäre illusorisch zu erwarten, dass die gesamte Arbeiter*innenklasse im Kapitalismus ein sozialistisches Bewusstsein entwickeln könnte. Wir sollten darauf abzielen, so viele Arbeiter*innen wie möglich von marxistischen Ideen zu überzeugen und zu diesem Zweck alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen. Wir sollten aber auch verstehen, dass die Bourgeoisie unendlich größere Mittel hat, um ihre Ideologie durchzusetzen. Außerhalb einer revolutionären Situation kann nur eine Minderheit der Arbeiter*innenklasse jemals wirklich revolutionär sein. In Anlehnung an einen Begriff aus der Militärtheorie, kann diese politisch fortgeschrittene Minderheit als Avantgarde oder Vorhut bezeichnet werden.

Die Differenzierung innerhalb unserer Klasse ist die Grundlage für die Taktik der Einheitsfront – ein Appell, den die kommunistischen Arbeiter*innen an die gesamte Arbeiter*innenklasse richten, egal welcher Organisation sie angehören. Die Einheitsfront basiert auf einer Vielzahl einfacher Forderungen, wie die Verteidigung von Arbeiter*innenrechten oder der Kampf gegen den Faschismus. Sie beinhaltet die Aufforderung an die Führung aller Gewerkschaften und aller anderen Arbeiter*innenorganisationen – ganz gleich, wie verräterisch oder bürokratisch sie auch sein mögen – sich dem Kampf anzuschließen. Sollten sie sich anschließen, sind ihre Mitglieder Teil einer Aktion an der Seite von Kommunist*innen. Sollten sie sich weigern, werden ihre Mitglieder sehen, dass ihre Führung sich weigert, für grundlegende Forderungen zu kämpfen.

Die Einheitsfront beginnt gewöhnlich als Verteidigungstaktik: Verteidigung gegen Angriffe auf unseren Lebensstandard, Verteidigung unserer demokratischen Rechte, Verteidigung gegen faschistische Gewalt usw. Erfolgreiche Verteidigungsaktionen erhöhen das Selbstvertrauen und die Organisation der Massen. Sie schaffen die Voraussetzungen für den Übergang in die Offensive.

Um ein historisches Beispiel zu nennen: Im Deutschland der frühen 1930er Jahre hätte eine Einheitsfront der Arbeiter*innen gegen den Faschismus, die Arbeiter*innenparteien und Gewerkschaften in direkter Aktion gegen die Nazis verbunden. Um wirksam sein zu können, hätte diese Einheitsfront allerdings die Bildung von Komitees in den Fabriken und Nachbarschaften erfordert. Angesichts des allgemeinen Kontextes wirtschaftlicher Katastrophe hätten diese Ausschüsse sich außerdem mit Fragen der Ernährung, der Mieten und der Löhne befassen müssen – die Verteidigungsausschüsse hätten sich zu allgemeinen Organen des Kampfes entwickelt.

Ein Organ, welches die gesamte Arbeiter*innenklasse im allgemeinen Kampf vereint, ist kurzgesagt ein Sowjet. Die Bildung eines Sowjets markiert den Übergang von der Defensive zur Offensive; Sowjets entstehen, wenn die Arbeiter*innenklasse, oft unbewusst, beginnt um politische Macht zu kämpfen. Wenn sie erfolgreich sind und siegen, werden Sowjets zu den Organen, die die Arbeiter*innenklasse zur Organisation ihrer politischen Herrschaft benutzt.

Sowjets in der Geschichte

Jede revolutionäre Situation stellt die Machtfrage. Das Dilemma besteht darin, wie die organisierte sozialistische Vorhut der Arbeiter*innenklasse die gesamte Arbeiter*innenklasse im Kampf um die Macht vereinen kann. In diesem Sinne sind Sowjets schlichtweg die vollständigste Form der Einheitsfront.

Während der Revolution von 1905 lösten die Arbeiter*innen von Petrograd dieses Problem, als sie den Rat der Arbeiterdeputierten bildeten. Diese Versammlung wurde von Delegierten aus allen Betrieben gebildet und vereinigte Vertreter*innen aller Arbeiter*innenparteien auf der Grundlage ihrer Unterstützung innerhalb der Arbeiter*innenklasse – ähnlich wie ein Arbeiter*innenparlament, aber mit direkt gewählten und sofort abrufbaren Vertretern. Der Name „Sowjets“ wurde weiterhin zur Beschreibung dieser Form der Selbstorganisation verwendet, da die Sowjets in der russischen Revolution von 1917 eine zentrale Rolle spielten.

Russland war aber nicht einzigartig. Während der deutschen Revolution von 1918-19 wurden landesweit Arbeiter*innen- und Soldatenräte gebildet. Ähnliche Formen gab es während der Revolutionen des 20. Jahrhunderts. So wurde zum Beispiel in der bolivianischen Revolution von 1952 der zentrale Gewerkschaftsverband COB zu einer Art Sowjet und enthielt Delegierte aus allen Sektoren der Arbeiter*innenklasse. In Chile unter der Regierung von Salvador Allende (1970-73) bildeten Arbeiter*innendelegierte „cordones industriales“ (Industriegürtel). In der iranischen Revolution von 1979-80 bildeten Arbeiter*innen „shoras“ (Räte). Als sich die Arbeiter*innen der stalinistischen Staaten gegen die Bürokratie erhoben, wie 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei, bildeten sie ebenfalls ratsähnliche Strukturen.

Die Namen solcher Organe der Selbstorganisation variieren je nach den historischen Gegebenheiten. Die Pariser Arbeiter, die sich 1871 erhoben, nannten ihre Regierung eine „Kommune“. Während der Spanischen Revolution von 1930-39 schlug Leo Trotzki vor, das Wort „Junta“ für Sowjets zu verwenden, da dies eher der revolutionären Tradition des Landes entsprach.

Es geht dabei nicht darum, den Begriff „Sowjet“ zu fetischisieren. Tatsächlich haben auch die russischen Bolschewiki die Sowjets nicht fetischisiert. Während der Februarrevolution 1917 wurden Sowjets gebildet, die in den ersten Monaten fest in den Händen von „Sozialpatrioten“ blieben, welche den imperialistischen Krieg und die bürgerliche Übergangsregierung unterstützten. Als die Massen Erfahrung mit dieser „demokratischen“ Regierung machten, die den imperialistischen Krieg fortsetzte und alle ernsthaften Reformen verzögerte, wandten sie sich an die Bolschewiki. Die Bolschewiki wiederum begannen Mehrheiten in den Sowjets der Großstädte zu gewinnen. Es war der nationale Kongress der Sowjets mit einer bolschewistischen Mehrheit, der im Oktober die Macht übernahm. Dies war ein früherer Streitpunkt innerhalb der bolschewistischen Führung gewesen. Lenin, damals im finnischen Exil, hatte die Bolschewiki dazu gedrängt, einen Aufstand unter ihrem eigenen Banner durchzuführen. Es war Trotzki, der stattdessen vorschlug, den Petrograder Sowjet zu nutzen. Die Bolschewiki mögen zwar die Mehrheit der Arbeiter*innenklasse in Petrograd und Moskau vertreten haben, die Sowjets hatten aber eine weitaus größere Legitimität, für die gesamte Arbeiter*innenklasse zu sprechen.

Die Frage für moderne Revolutionär*innen ist nun, wie Organe aufzubauen sind, die die gesamte Arbeiter*innenklasse repräsentieren und vereinen.

Sowjets ohne Bolschewist*innen?

Einige Linke sind für Arbeiter*innenräte. Stellen aber Räte allein schon eine Strategie dar? Kann die Arbeiter*innenklasse den Kapitalismus besiegen, indem sie einfach genug Räte bildet? Die Geschichte der deutschen Revolution lehrt uns, dass dies nicht ausreichend ist. In den Tagen nach der Meuterei der Kieler Matrosen am 4. November 1918 entstanden in ganz Deutschland hunderte Arbeiter*innen- und Soldat*innenräte. Nachdem der Aufstand fünf Tage später Berlin erreichte, bildeten die Räte eine Art provisorische Regierung. Diese Räte repräsentierten jedoch nicht den Willen von Millionen Arbeiter*innen, den Kapitalismus zu beenden. [2]

Vergessen wir nicht, dass Räte in der Hitze der Revolution gebildet werden. Perfekte demokratische Normen werden nie vollständig umgesetzt, definitiv nicht zu Beginn einer Revolution, wenn Millionen von Menschen auf die Straßen strömen. Am Anfang übernehmen oft reformistische Bürokrat*innen, Abenteurer*innen und Betrüger*innen die Führung. In den ersten Monaten der deutschen Revolution wählten beispielsweise viele Soldaten ihre Offiziere oder Apparatschiks der SPD zu ihren Vertreter*innen. Bevor die Arbeiter*innen neue Vertreter*innen wählen konnten, massakrierte dieses Bündnis von SPD und Militär bereits kommunistische Führer*innen. Nachdem die Revolution eine Niederlage erlitten hatte, verschwendeten einige Kommunist*innen endlose Mengen an Tinte, um ein „reines“ Rätesystem zu entwickeln. Sie konstruierten unglaublich detaillierte Entwürfe für den perfekten Rat. Räte entstehen aber aus echten Kämpfen, nicht aus den Plänen illustrer Denker*innen.

Die Lektion der deutschen Revolution ist, dass Arbeiter*innenräte ohne eine revolutionäre Partei nirgendwo hinführen. Die Arbeiter*innen- und Soldatenräte in Deutschland wurden von der SPD dominiert, der Partei, die versuchte das Rätesystem an sich zu zerstören. Die SPD hatte die Mehrheit der Delegierten auf dem Nationalratskongress und diese stimmten für eine Nationalversammlung und eine bürgerliche Republik. Die zentristische USPD forderte ihrerseits ein Modell, in dem sich ein bürgerliches Parlament und Arbeiter*innenräte ergänzen würden – die Utopie einer permanenten Doppelmacht. Nur eine sehr kleine Minderheit innerhalb der Räte, die sich in der Spartakusliga und anderen Gruppen zusammengeschlossen hatte, forderte eine sozialistische Republik; das Fehlen einer revolutionären Partei ist der Grund, aus dem die Räte von der Konterrevolution zerschlagen wurden.

Die Räte stellen nur eine Struktur dar. Sie können nur dann mit revolutionärem Inhalt gefüllt werden, wenn eine revolutionäre Partei – die gemeinsame Organisation der bewusstesten, mit einem wissenschaftlichen Programm und einer Strategie bewaffneten Arbeiter*innen – die Führung gewinnen kann. In den Händen der Reformist*innen können Räte ebenso leicht zu Werkzeugen der bürgerlichen Herrschaft gemacht werden. Nur eine revolutionäre Partei kann das Programm, die Strategie und die Taktik ausarbeiten, die für die Arbeiter*innenklasse notwendig sind, um politische Macht zu gewinnen. Dies ist eine Aufgabe, die vor Beginn der Revolution in Angriff genommen werden muss.

Sowjets fallen nicht vom Himmel

Wir werden selten rein revolutionäre oder rein konterrevolutionäre Situationen erleben. In unserem Zeitalter des kapitalistischen Verfalls werden wir uns häufiger in Übergangssituationen befinden, die Elemente von Beiden verbinden und sich plötzlich ändern können. Es ist unsinnig, die eine Strategie für eine nichtrevolutionäre Situation anzuwenden und zu einer andere Strategie zu greifen, wenn sie zu einer revolutionären wird, wie Karl Kautsky es befürwortete. Strategie ist die Kunst des Sieges und dazu gehört es, Perioden kapitalistischer Stabilität zu nutzen, um sich auf Phasen vorzubereiten, in denen diese Stabilität zusammenbricht.

Räte entstehen nicht automatisch, sobald eine Revolution beginnt. Was Arbeiter*innen tun werden, wenn eine revolutionäre Krise ausbricht, hängt stark von ihren früheren Erfahrungen ab. Trotzki bemerkte, dass die Arbeiter*innen in Petrograd ihren Sowjet spontan, ohne Anweisungen der Führung der Arbeiter*innenparteien gründeten. Aber diese „Spontanität“ war das Ergebnis jahrelanger politischer Ausbildung durch die bolschewistische Partei.

Einige Sozialist*innen zeigen eine Tendenz zum Objektivismus, wenn es um die Frage der Sowjets geht. Sie betrachten eine revolutionäre Situation und stellen die Ja-oder-Nein-Frage: „Sind dort Räte entstanden?“, als ob die bewusste Politik von Revolutionär*innen nichts damit zu tun hätte.

Ein Beispiel dafür ist in der spanischen Revolution zu finden. Andreu Nin war ein Führer der Arbeiter*innenpartei der marxistischen Vereinigung (POUM) und ein ehemaliger Verbündeter Trotzkis. Er brach mit Trotzki, als die POUM der Volksfront, einem Bündnis zwischen bürgerlichen und reformistischen Parteien, das sich dem Erhalt des Privateigentums verschrieben hatte, ihre Unterstützung bekundete. Als die Revolution begann, trat die POUM in die Generalitat von Katalonien ein, eine bürgerliche Regierung, und Nin wurde ihr Justizminister.

Trotzki sagte, es sei Verrat, sich einer bürgerlichen Regierung anzuschließen; Nin antwortete, es gebe keine Alternative, da die spanische Revolution so etwas wie Räte nicht hervorgebracht habe. Es gab selbstverständlich vielfältige Formen der Selbstorganisation der Arbeiter*innen und Bauersleute des revolutionären Kataloniens, aber diese verallgemeinerten sich nicht, weitgehend, weil sich die mächtige anarchistische Strömung jeder Art von Zentralisierung widersetzte.

Die Frage aber ist, was hatten Nin und die POUM getan, um all diese Organe der Selbstorganisation über einen Kongress der Räte zu vereinen? Nichts! In der Tat, weitaus schlimmer als nichts. Im Namen der Vereinheitlichung der Verwaltung war Nin als Justizminister für die Auflösung der revolutionären Räte in ganz Katalonien verantwortlich. Nin übernahm persönlich die Aufgabe, Revolutionsräte in POUM-Hochburgen wie Girona aufzulösen.

Revolutionär*innen diagnostizieren nicht nur als passive Beobachter*innen, ob die Arbeiter*innenklasse Organe der Selbstorganisation schafft. Revolutionär*innen müssen bei der Schaffung solcher Organe die entschlossenste Kraft sein. Diese Frage spielte eine große Rolle, als die trotzkistische Fraktion aus der Strömung von Nahuel Moreno, der Internationalen Arbeiter*innenliga – Vierte Internationale (LIT-CI, wie sie auf Spanisch heißt), hervorging. Moreno bemerkte, dass die Sowjets, die für die revolutionären Prozesse nach dem Ersten Weltkrieg typisch waren, im restlichen 20. Jahrhunderts nicht wieder auftauchten. Diese Behauptung ist aber doppelt falsch: Erstens ignoriert sie die vielen oben genannten Beispiele und zweitens ignoriert sie, wie oft Räte von der Sozialdemokratie und dem Stalinismus gewaltsam unterdrückt wurden.

Moreno ist der Ansicht, dass Slogans wie „alle Macht den Sowjets“ ohne Räte keinen Sinn machen. Stattdessen schlug er vor, die Organisationen der Arbeiter*innen und Bauersleute aufzufordern, die Macht zu übernehmen. Als zum Beispiel die revolutionäre Diktatur in Argentinien durch Massenmobilisierungen gestürzt wurde, stellte Moreno zu Recht fest, dass es keine Organe der Selbstorganisation von Arbeiter*innen gab. Er schloss daraus allerdings, dass Revolutionär*innen bürgerliche oder kleinbürgerliche Parteien aufrufen müssen, sich gegen den Imperialismus zu stellen und die Macht zu übernehmen. Morenos Organisation hatte selbst kein Programm für die Entwicklung solcher sowjetähnlicher Organe. Dieser Objektivismus in Bezug auf Räte führte dazu, dass Moreno sich den Kräften der bürgerlichen Demokratie anpasste und sogar so weit ging, die „demokratische Revolution“ als eine von der „sozialistischen Revolution“ getrennte Etappe zu betrachten – eine zentrale Revision von Trotzkis Theorie der permanenten Revolution. Die Zentralität der Arbeiter*innenräte ist ein wichtiger Teil des Vermächtnisses der trotzkistischen Fraktion und ihres Bruchs von Moreno. [3]

Was hat das heute zu bedeuten?

Eine revolutionäre Strategie beginnt nicht mit der „Stürmung des Winterpalastes“. Ganz im Gegenteil, Strategie bedeutet, Kräfte zu sammeln um entschlossen einzugreifen, sobald eine revolutionäre Situation eintritt. Wenn wir der Überzeugung sind, dass eine sozialistische Revolution Arbeiter*innenräte und eine proletarische Partei erfordert, so bedeutet dies, alles zu tun, um den Boden im Hier und Jetzt darauf vorzubereiten. Das hat zwei Konsequenzen:

  • Die Arbeiter*innenklasse muss Organisationen mit einem kompromisslos revolutionären Programm bilden. Wir sollten beharrlich und doch unendlich flexibel sein, wenn es darum geht, in der Arbeiter*innenklasse Wurzeln zu schlagen. Wir sollten uns aber auch klar gegen „demokratische Sozialist*innen“ wenden, die innerhalb einer imperialistischen Partei arbeiten.
  • Wir müssen Formen der Selbstorganisation in jedem Konflikt entwickeln. Wir wollen, dass Arbeiter*innen, Jugendliche, Frauen und LGBTQ+ Personen Versammlungen abhalten, wo immer es möglich ist. Als Sozialist*innen sollten wir die engagiertesten Kämpfer*innen für Versammlungen als oberstes Organ von Entscheidungen sein.

Tatsächlich werden wir uns aufgrund unserer Vorbereitung als organisierte Sozialist*innen in der Situation wiederfinden, die Führung einer neuen Bewegung übernehmen zu können, auch wenn wir keine Mehrheit hinter unserem Programm haben. Das aber würde uns bestenfalls einen taktischen Vorteil verschaffen. Ganz im Gegenteil, da es in unserem strategischen Interesse liegt, dass Arbeiter*innen Erfahrungen mit Versammlungen sammeln, ist es besser, wenn eine Versammlung gegen unseren Vorschlag stimmt, als wenn wir unsere Taktik durch ein Manöver aufzwingen.

Die Sowjet-Strategie bedeutet, dass wir in jedem Konflikt auf Selbstorganisation drängen. Arbeiter*innenräte werden nicht einfach vom Himmel fallen, wenn eine revolutionäre Situation entsteht. Sie sind ein qualitativer Sprung nach vorn, der auf früheren Erfahrungen mit gewählten Streikkomitees, Versammlungen und anderen Organen solcher Form basiert.

In jedem Konflikt kämpfen wir für die Elemente eines revolutionären Programms, die als Teil einer Reihe von Übergangsforderungen am relevantesten sind. Das kommunistische Programm zum Beispiel fordert die Auflösung des bürgerlichen Militär- und Repressionsapparates und seine Ersetzung durch Arbeiter*innenmilizen. In einem konkreten Kampf im Jahr 2019 könnte dies bedeuten, dass die Arbeiter*innen zur organisierten Selbstverteidigung der Streikpostenketten aufgerufen werden, als Schritt in Richtung allgemeinerer Formen der Selbstverteidigung. Oder in Momenten eines verstärkten Kampfes, wie der Bewegung der Gelbwesten in Frankreich, kann es sich um eine systematischere Selbstverteidigung gegen staatliche Gewalt handeln, die von Nationalversammlungen koordiniert wird.

Die Gelbwestenbewegung in Frankreich, die das Regime einer der bedeutendsten imperialistischen Mächte erschüttert hat, hat starke Tendenzen zur Selbstorganisation gezeigt. Die „Versammlung der Versammlungen“ in Commercy und Saint-Nazaire brachte Delegierte mit Mandaten von Versammlungen aus dem ganzen Land zusammen, die per Mehrheitsentscheid über ihre Aktionen und Forderungen abstimmte. Allerdings fehlte es den Gelbwesten, obwohl sie größtenteils proletarisch waren, an organischen Verbindungen zu den großen Bataillonen der Arbeiter*innenklasse. Die bürokratischen Führungen der Gewerkschaften waren in der Lage, die Arbeiter*innen daran zu hindern, sich organisiert in den Kampf zu begeben. Während die Gelbwesten also wieder und wieder in der Lage waren, das Zentrum von Paris zu blockieren, konnten sie die französische Wirtschaft doch nicht zum Erliegen bringen. Genau hier hätte eine revolutionäre Partei einen Unterschied machen können, indem sie innerhalb der Gewerkschaften für die Mobilisierung der Arbeiter*innen gekämpft und währenddessen die Versammlungen auf die gesamte Arbeiter*innenklasse ausgeweitet hätte. [4]

Diese Sowjet-Strategie steht in kategorischem Gegensatz zu jener der „demokratischen Sozialist*innen“ (oder in Wirklichkeit Sozialdemokrat*innen), die den kapitalistischen Staat auf eine andere, bessere Art und Weise verwalten wollen. Unser programmatisches Ziel ist dem völlig entgegengesetzt. Wir lehnen Wahlkampfarbeit nicht ab, wir denken, dass Sozialist*innen Wahlkampagnen (und wo immer möglich, Parlamentssitze) nutzen sollten, um das Verständnis der Arbeiter*innen für die Notwendigkeit einer von der herrschenden Klasse und ihren Institutionen unabhängigen Organisation zu stärken. Deshalb sind wir absolut gegen „sozialistische“ Kampagnen für Kandidaturen der Demokratischen Partei in den USA. Jede Initiative für eine unabhängige sozialistische Organisation in den Vereinigten Staaten wird unsere Unterstützung erhalten; wir wollen sie in einer mächtigen revolutionären Partei vereinen.

Die Sowjet-Strategie geht viel weiter als die des Basisaufbaus, da sie versucht, neue Organisationen der Arbeiter*innenklasse unter der Führung von Sozialist*innen aufzubauen. Wir denken, dass Revolutionär*innen als Fraktionen in breiten Organisationen arbeiten müssen, die alle Tendenzen innerhalb der Arbeiter*innenklasse umfassen. Solche Formen der Selbstorganisation sind der Rahmen, in dem Sozialist*innen die Unterstützung der Massen für ein revolutionäres Programm mit einer klaren Strategie gewinnen können.

Anmerkungen

[1] Große Teile dieses Artikels basieren auf einer Rede, die am 13. Januar 2018 in Berlin gehalten wurde. Mehr Informationen über die Art, auf die die Trotzkistische Fraktion versucht ihre Strategie in die lebendigen Klassenkämpfe einzubringen, sind in dem auf spanisch geschriebenen Buch Estrategia socialista arte militar zu finden, das aktuell ins Englische übersetzt wird.

[2] Nathaniel Flakin, „Vor 100 Jahren betreten Revolutionär*innen in Deutschland den Rasen“ (dreiteiliger Artikel), Klasse gegen Klasse, 9./16./27. November 2018

[3] Mit dieser Frage wird sich in einem auf Spanisch geschriebenen Artikel auseinandergesetzt: Emilio Albamonte und Fredy Lizarrague, „La estrategia soviética en lucha por la República obrera“, Estrategia Internacional, no. 4-5 (1993). Der Artikel wurde nach unserem Wissen leider nie ins Englische oder Deutsche übersetzt.

[4] Mehr Informationen zu den Gelb-Westen sind in folgendem Artikel zu finden: „Inside the ‚Yellow Vest‘ Rebellion – Interview with Daniela Cobet“, Left Voice, no.4 (Frühling 2019).

Dieser Artikel erschient zuerst bei Leftvoice am 1. März 2020. Übersetzung: Tobias.

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