Revolte und Revolution im 21. Jahrhundert

14.11.2019, Lesezeit 20 Min.
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Nach dem arabischen Frühling von 2011 ist in den letzten Monaten eine neue Welle internationaler Klassenkämpfe ausgebrochen. Die Revolten sind gewaltvoller und explosiver, aber die Massenbewegungen handeln desorganisiert. Geeint und angeführt werden können sie nur von der Arbeiter*innenklasse.

Beitragsbild: Ideas de Izquierda

Seit dem Ausbruch der Krise des Kapitalismus im Jahre 2008 haben sich international zwei Zyklen des Klassenkampfes vollzogen. Während des ersten sahen wir im wesentlichen friedliche Revolten im „Westen“ wie die der indignados [Empörten] der spanischen Bewegung des 15. Mai (15M). Ihm folgten Bewegungen wie die des Taksim-Platzes in der Türkei oder des massiven Junis 2013 in Brasilien. Größere Krisensituationen wie in Griechenland ab 2010 haben zugespitzte Klassenkampfprozesse hervorgebracht, die fehlgeleitet wurden. Unterdessen traten die Massen in den eher „östlichen“ Schauplätzen des so genannten „arabischen Frühlings“ den Diktaturen entgegen und der Prozess nahm sehr viel gewaltvollere Formen an. So 2011 in Ägypten, wo die Bewegung des Tahrir-Platzes letztlich den Anfang eines revolutionären Prozesses darstellte, der kurz darauf mit Blut und Feuer beendet wurde.

Momentan gehen wir mitten durch einen zweiten Zyklus des Klassenkampfes. Sein Auftakt war bis Ende 2018 das Aufkommen der Gelbwesten in Frankreich. Im Gegensatz zu den indignados sind die Gelbwesten Produkt eines gesteigerten Niveaus und gewaltvolleren Klassenkampfes. Dies ging mit einer Repression einher, die innerhalb imperialistischer Demokratien schon lange nicht mehr zu beobachten war. Zu den Sektoren, die Protagonist*innen des vorherigen Klassenkampf-Zyklus waren, gesellten sich wichtige Teile der unteren und prekarisierten Schichten der Arbeiter*innenklasse und insbesondere der Peripherie. Die Bewegung richtete sich gegen die Regierung Macrons, indem sie seinen Rücktritt forderte, und wies sogar Elemente der Selbstorganisierung wie die „Versammlungen der Versammlungen“ auf, die sich allerdings nicht weiter entwickelt haben.

Auch im zweiten katalanischen Aufstand, der noch dabei ist, sich zu entwickeln oder in den Protesten, die in Hong Kong stattfinden, sehen wir gerade Konfrontationen auf höherem Niveau. Auf der anderen Seite gewann der „arabische Frühling“ mit den Konfrontationen in Algerien und im Sudan wieder an Aktualität. Im vom Krieg verwüsteten Irak haben sich massive Proteste gegen die Arbeitslosigkeit und die hohen Lebenshaltungskosten entwickelt. Sie werden von einer Repression heimgesucht, die eine Spur von Toten nach sich zieht. Im Libanon wird breit gegen die Regierung mobilisiert. In Lateinamerika sind die revolutionären Tage, die Chile und zuvor in etwas geringerem Ausmaß Ecuador ergriffen haben, ein Teil des Klassenkampf-Zyklus, der ebenfalls Puerto Rico, Honduras und Haiti umfasst. Dort kommt es zu schärferen Konfrontationen sowie Repression durch die Armee auf den Straßen.

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An den Grenzen der „bürgerlichen Restauration“

Hintergrund dieser Prozesse sind in der Regel keine großen Katastrophen (Kriege oder wirtschaftliche Zusammenbrüche), wie sie beispielsweise in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stattgefunden haben, sondern eine schleichende Krise des Kapitalismus, die seit 2008 verschiedene Phasen durchlaufen hat. Diese Besonderheit kommt in diesem zweiten Zyklus vor allem im Protagonismus zweier verschiedener Sektoren zum Ausdruck.

Die einen könnten wir mangels einer anschaulicheren Bezeichnung die „relativen Verlierer*innen“ der Globalisierung nennen. Es sind diejenigen, die irgendwie Fortschritte gemacht haben (auch wenn sie nur aus der Armut herausgekommen sind) und dabei ihre Erwartungen an weitere Fortschritte durch die Krise enttäuscht sehen. Sie sind zusammen gesetzt aus einem breiten Spektrum an Klassen, zum Beispiel von jungen Studierenden, überqualifizierten Absolvent*innen, Outgesourcten und Prekären, die im ersten Zyklus der post-2008er Jahre in Europa das entscheidende Gewicht hatten.

Der andere Sektor ist die euphemistisch genannte „neue Klasse C“. Diese besteht überwiegend aus Beschäftigten, die in Lateinamerika (unter dem Rohstoffboom) aus der Armut herauskamen, aber sich zum Beispiel mit dem Verfall öffentlicher Dienstleistungen (Brasilien) konfrontiert sehen. Dem vorherigen Verständnis folgend könnten wir den zweiten großen Sektor die „absoluten Verlierer*innen“ der Globalisierung nennen. Verarmte, wenn nicht arbeitslose dann prekarisierte Sektoren, vor allem aus der Arbeiter*innenklasse und der Jugend. Diese Gruppe wurde vom neoliberalen „Sozialpakt“ nahezu außen vor gelassen und in Richtung der Peripherie der Großstädte verdrängt. Zudem wird sie in der Regel seitens der Bourgeoisie und der großen Medien stigmatisiert. Sie hinterlässt vor allem in diesem zweiten Klassenkampfzyklus ihren Fußabdruck. Wir haben sie in Pariser Straßen und auf Frankreichs Autobahnen strömen sehen. Wir sehen sie heute in Chile. Unter ihnen: mehr als 500.000 „weder noch“-Jugendliche, die weder Studienplatz noch Arbeits- oder Ausbildungsplatz haben; jene, die ganz besonders von der Repression und Kriminalisierung in den Vierteln betroffen sind.

In diesem zweiten Zyklus bilden beide Sektoren die Tonmasse, die die Proteste formt. Dieser Prozess stellt ein Ausbrechen der „absoluten Verlierer*innen“ dar, was diesem zweiten Klassenkampfzyklus einen gewaltvolleren und explosiveren Charakter verleiht. Zweifelsohne ist das eines der grundlegenden Merkmale, die auch der erste Zyklus aufwies: die Vormachtstellung der Dynamik der Revolte.

Die Revolten und der „erweiterte Staat“

Die Revolten setzen sich aus spontanen Aktionen zusammen, die die Kräfte der Massen freisetzen und ein hohes Maß an Gewalt hervorrufen können. Aber im Gegensatz zu Revolutionen zielen sie nicht darauf ab, die bestehende Ordnung zu ersetzen, sondern sie unter Druck zu setzen. Dazwischen gibt es aber keine undurchdringliche Trennwand. Revolten bergen in sich die Möglichkeit, das Stadium von Widerstandsaktionen oder extremen Drucksituationen zu überwinden. Sie können Momente ein und desselben Prozesses sein, der eine Revolution in Gang setzt oder aber nicht. Es hängt von ihrer Entwicklung ab, insbesondere davon, ob die Arbeiter*innenklasse und die Massenbewegung in ihrem Bewusstsein und ihrer Organisierung vorankommen können.

In diesem zweiten Zyklus haben wir sowohl die Potentiale der Dynamik der Revolte als auch ihre Grenzen gesehen. Sie haben gezeigt, wie man auf den Straßen kapitalistische Angriffe bremsen kann: Wir haben es an den revolutionären Tagen gegen Macron in Frankreich, gegen Moreno in Ecuador und jetzt gegen Piñera in Chile gesehen. Sie haben sogar Staatschefs wie Boutleflika in Algerien, Al Bashir im Sudan oder Rosselló in Puerto Rico gestürzt. Dennoch sind die zugestandenen Reformen – wie heute in Chile – nur oberflächlich und bleiben im Rahmen einer kapitalistischen Struktur, die konstant Ungleichheit vervielfältigt und von Krisen durchzogen ist. Selbst wenn Regierungen gestürzt werden, bestehen die Regime weiter, die von den Massen abgelehnt werden.

Diese Grenzen hängen mit einer besonderen Charakteristik der Revolte zusammen, die darin besteht, dass die Massenbewegung desorganisiert interveniert, was sich in der heutigen Zeit besonders in ihrem „staatsbürgerlichen“ Charakter ausdrückt. Die sozialen Netzwerke und die neuen Technologien, die in den Prozessen der letzten Zeit aus vielen Blickwinkeln sehr nützlich waren, wie insbesondere im Falle Chiles hinsichtlich der Verurteilung der Repression von Polizei und Armee, tragen jedoch auch zur Logik der Atomisierung bei. Es sind große Aufrufe, die viral werden, aber keine Orte der Debatte und Organisierung schaffen, oder die eine Vertikalität begünstigen, die zu einem Hindernis für die Selbstorganisation wird, wie im Fall von Tsunami Democràtic im Aufstand der Massen Kataloniens.

In diesem Zusammenhang verzichtet die Arbeiter*innenklasse, die die „strategischen Positionen“ kontrolliert, welche die Gesellschaft am Laufen halten (Transport, Großindustrie und Dienstleistungen) abgesehen von Ausnahmefällen darauf, ihre entscheidende Kraft einzusetzen, und nimmt an den Protesten als Teil der „Staatsbürger*innen“ teil, aufgelöst im „Volk“ im Allgemeinen. Natürlich sind die Jahrzehnte neoliberaler Offensiven auf globaler Ebene nicht spurlos vorübergezogen. Während sich die Arbeiter*innenklasse einerseits wie nie zuvor in der Geschichte ausgedehnt hat, wurde sie auch viel heterogener und durchlitt einen breiten Prozess der Fragmentierung. Die soziopolitische Struktur des Staates in der heutigen Zeit ist ihrerseits dafür gemacht, diese Fragmentierung zu festigen. Wir sprechen von einem „erweiterten Staat“, der weit über das „passive Abwarten“ der Herstellung eines Herrschaftskonsenses hinausgeht, sondern sich der „Organisierung“ eben dieses Konsenses widmet. Dies tut er mittels der Verstaatlichung der Massenorganisationen und der Entwicklung der Bürokratien in ihrem Innern (angefangen mit den Gewerkschaften), die die Zertrümmerung der Arbeiter*innenklasse garantieren.

Wir haben das im Fall Frankreichs gesehen, wo nicht nur die gelben Gewerkschafsbürokratien, wie die der CFDT, sondern auch die angeblich „kämpferische“ Führung der linken Gewerkschaft CGT dafür Sorge trug, die gewerkschaftlich organisierten Sektoren, welche die „strategischen Positionen“ innehaben, von der Bewegung der Gelbwesten fernzuhalten. Oder in Ecuador, wo die indigene Dachorganisation CONAIE die indigene Bewegung im schärfsten Moment der Konfrontation mit der Regierung von den Straßen von Quito abgezogen hat. Wir sehen es aktuell in Chile, wo die gewerkschaftlichen, studentischen und sozialen Bürokratien des „Tisches der Sozialen Einheit“ sich darum reißen, mit der Regierung in Dialog zu treten, während der Ruf „Piñera raus“ durch die Straßen hallt.

Die Abwesenheit der Hegemonie der Arbeiter*innen ist bestimmend dafür, dass die Bewegung sich in einer „staatsbürgerlichen“ Form ausdrückt, obwohl viele ihrer Protagonist*innen Teil der Arbeiter*innenklasse sind. Es herrscht also eine Heterogenität der Bewegungen vor, auf die wir uns zuvor in Begriffen „absoluter“ und „relativer“ Verlierer*innen der Globalisierung bezogen haben. Auf derselben Grundlage versuchen die Bourgeoisie, der Staat und die Medien, die Proteste in „gute“ und „legitime“ Demonstrant*innen einerseits und „gewalttätige“ sowie „unzivilisierte“ Demonstrant*innen andererseits zu spalten und zu kanalisieren. Für erstere existiert die Möglichkeit, ihnen irgendein minimales Zugeständnis zu gewähren, um sie von den Straßen zu holen. Dies geschieht jedoch mit dem Ziel, die letzteren zu isolieren und zu kriminalisieren.

Diese Ausbrüche von Klassenhass und Klassenkampf, die sich in den Revolten ausdrücken, könnten sich letztendlich im Tausch für kosmetische Reformen erschöpfen, die nichts Substanzielles verändern. Dies geschieht, indem sie mittels irgendeiner bürgerlichen politischen Variante (von rechts oder von links) ins Innere der Institutionen des Regimes kanalisiert werden, oder gar durch mögliche Putsche und/oder bonapartistische Auswege beantwortet werden. Die strategische Frage ist, wie diese Ausbrüche stattdessen ihr Potenzial entfalten und den Weg von der Revolte zur Revolution eröffnen. Das Schlüsselelement in diesem Sinn ist eben gerade die Entwicklung einer Hegemonie der Arbeiter*innen, die die verschiedenen Sektoren im Kampf vereinen kann.

Der Prozess in Chile

In Chile entwickelt sich einer der wichtigsten Prozesse des aktuellen Zyklus des Klassenkampfes. Eine Gesellschaft der Ungleichheit, in der die ärmeren 50% der Haushalte 2,1% des Nettoreichtums besitzen, während das reichste 1% der Haushalte 26,5% des Nettoreichtums auf sich konzentriert. Eine Gesellschaft, in der es diese „relativen Verlierer*innen“ gibt, die Teil derjenigen sind, die im letzten Jahrzehnt gerade so aus der Armut herausgekommen sind (welche laut offiziellen Statistiken von 29,1% im Jahr 2006 auf 8,6% im Jahr 2017 gesunken ist). Sie leben aber in einem Land, in dem alles privatisiert ist und die Krankheit eines Familienmitglieds die ganze Familie in den Ruin treiben kann. Eine Gesellschaft, in der 21% der Jugendlichen zwischen 18 und 29 Jahren ihre Schulden nicht bezahlen können. Es gibt dort auch die „absoluten Verlierer*innen“, diese halbe Million Jugendlicher, die weder einen Studienplatz noch einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz haben, sowie die 1,5 Millionen, die trotz des Wirtschaftsbooms in der Armut versunken bleiben.

Wir haben gesehen, wie es zu Beginn die Jugend der weiterführenden Schulen war, die gegen die Fahrpreiserhöhungen auf die Straßen ging, damit die Sympathie von Millionen erweckte und so die revolutionären Tage eröffnete. Nach der repressiven Antwort der Piñera-Regierung, die immer weiter eskalierte, besetzte das Militär die Straßen des Landes. Das löste wiederum eine immer größere Wut der Massen in Santiago und der Peripherie aus, die sich später landesweit ausbreitete – mit Barrikaden, Demonstrationen, verbrannten Bussen, vielen Plünderungen von Großunternehmen, verbrannten Polizeiautos und öffentlichen Gebäude. Danach begannen Sektoren der organisierten Arbeiter*innenbewegung, wie die Hafenarbeiter*innen und ein Sektor der Bergleute, in die Bewegung einzutreten. Die Bürokratie des Gewerkschaftsverbandes CUT, die hinter den Ereignissen zurückblieb, versuchte zu einem „Streik mit leeren Straßen“ aufzurufen, der schließlich zu einem routinehaften Streik wurde, welcher sich aber den Mobilisierungen anschloss.

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Danach kam ein neuer Moment mit der massenhaften Ausdehnung der Demonstration vom 25. Oktober, die allein in Santiago weit mehr als eine Million Menschen mobilisierte, auch wenn die Demonstration ein pazifistisches und festliches Klima hatte, anders als die Mobilisierungen des ersten Moments. Als Antwort darauf begrüßte Piñera zynisch die Demonstration und verstärkte gemeinsam mit einer massiven Kampagne in den Medien die Versuche, die „legitimen“ Demonstrant*innen („die Familien“) von den „Gewalttätigen“ zu trennen, also von den Armen aus der Peripherie und den Jugendlichen, die sich der Repression auf den Straßen entgegenstellten. Die Bürokratie des Gewerkschaftsverbands CUT besiegelte ihre routinehafte Beteiligung am Mittwoch letzter Woche mit einem Streik und einer Demonstration, bei der die Forderung „Piñera raus“ sorgfältig ausgelassen wurde – in völligem Gegensatz zu einer Hegemonie der Arbeiter*innen, die es erlaubt hätte, diejenigen Sektoren miteinander zu verbinden, die das Regime spalten will. Dies hätten zum Beispiel die Verstärkung von Streikposten und Selbstverteidigung gegen das Militär zum Ausdruck bringen können, welches sich wie eine wahrhafte Besatzungsarmee aufführte.

„Staatsbürgerliche“ Mobilisierung und die Macht der Klasse

Aktuell finden in Chile – zusammen mit der sogenannten „Sozialagenda“, die ein paar Krümel verspricht, um das Erbregime der Pinochet-Diktatur zu schützen – eine ganze Reihe von institutionellen Manövern statt, mit denen Piñera sich an der Macht halten will (Kabinettsumbildung, parlamentarische Verhandlung mit der Opposition usw.). Angesichts des Andauerns der Mobilisierungen – wenn auch mit geringerer Intensität – haben Sektoren des Regimes eine Art verfassungsgebende Versammlung als Teil der institutionellen Erneuerung vorgeschlagen. Die stalinistische KP und die reformistische „Frente Amplio“ (FA), die die Forderung „Piñera raus“ schon in ein bloßes Amtsenthebungsverfahren umgewandelt haben, haben sich dieser Idee eines „verfassungsgebenden Prozesses“ innerhalb des Rahmens des Regimes ebenfalls angeschlossen. Daher ist aktuell eine Debatte notwendig, sowohl in Bezug auf die Forderung „Piñera raus“ als auch in Bezug auf eine verfassungsgebende Versammlung, die zur Rettung des Regimes dienen soll.

Diesen Manövern stellen wir revolutionäre Sozialist*innen den Vorschlag einer freien und souveränen verfassungsgebenden Versammlung entgegen, die wirklich in der Lage ist, den Willen der Massen auszudrücken und die volle Befugnisse besitzt. Eine solche Versammlung kann nur durch die Aktion der Massen durchgesetzt werden, die die Forderung „Piñera raus“ zur Realität macht und auf den Trümmern des aktuellen Regimes aufgebaut wird. Radikaldemokratische Forderungen wie „verfassungsgebende Versammlung“ können eine wichtige Rolle spielen – nicht weil die Massenbewegung notwendigerweise zuerst irgendeine demokratische Etappe durchschreiten müsste, sondern wie Trotzki sagte: „Das Proletariat kann die Etappe der Demokratie überspringen, aber wir können nicht die Etappen der Entwicklung des Proletariats überspringen.“

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In diesem Sinne ist es wichtig zu unterscheiden, dass es eine Sache ist, dass eine Verfassungsgebende Versammlung, wie wir sie gerade beschrieben haben, den Willen der Massen ausdrücken kann, und eine ganz andere, ob diese aus sich selbst heraus die Macht hat, die Forderungen der Massenbewegung effektiv durchzusetzen. Letzteres impliziert notwendigerweise, den Widerstand der Kapitalist*innen zu besiegen. Wie Lassalle in seiner klassischen Schrift Über Verfassungswesen bemerkte:

Das politische Machtmittel des Königs [heute die Exekutivgewalt], das Heer, ist organisiert, ist in jeder Stunde beisammen, ist trefflich diszipliniert und in jedem Augenblick bereit, auszurücken; die in der Nation ruhende Macht dagegen, meine Herren, wenn sie auch in Wirklichkeit eine unendlich größere ist, ist nicht organisiert.

Die Verfassungsgebende Versammlung ist, wie Trotzki sagte, „die demokratischste Form der parlamentarischen Vertretung“, aber der kapitalistische Staat basiert auf einer Armee, auf Repressivkräften, die einen bürgerlichen Klassencharakter besitzen. Niemand darf erwarten, dass sie friedlich irgendeine Entscheidung akzeptieren werden, die wirklich gegen die Kapitalist*innen geht. Ohne weiter auszuholen, beweist das der Putsch von Pinochet 1973. Deshalb ist es notwendig, ihm eine wirkliche alternative Klassenmacht entgegenzusetzen.

In diesem Sinn kann der Slogan einer Verfassungsgebenden Versammlung eine wichtige pädagogische Rolle spielen. In eben jenem Kampf für die Durchsetzung dieser Maßnahmen gegen den Widerstand der bürgerlichen Ordnung mit ihren bewaffneten Streitkräften (und ihren halbstaatlichen Kräften) können immer breitere Sektoren der arbeitenden Massen bis zum Schluss ihre Erfahrungen mit der repräsentativen Demokratie machen. Sie können die Notwendigkeit erkennen, den Platz der atomisierten „Staatsbürger*innen“ endgültig aufzugeben und sich stattdessen aus den Betrieben, Fabriken, dem Transportsektor, den Schulen, Fakultäten usw. heraus zu organisieren, um ihre eigenen demokratischen Machtorgane und ihre eigenen Selbstverteidigungsorganisationen zu entwickeln. Die Räte oder Sowjets entstehen genau so.

Tatsächlich hatten die Cordones Industriales in den 70ern in Chile eine ähnliche Entwicklung in ihrem Kampf gegen die Reaktion. Im Oktober 1972, mit mehr als 500 Betriebsbesetzungen, waren sie der wirkliche Widerstand gegen den ersten Putschversuch der Bourgeoisie. Dennoch konnten sie sich nicht in eine wirkliche (bewaffnete) alternative Macht zum bürgerlichen Staat und seinen materiellen Kräften verwandeln. Dies war in großem Maße der Politik der Kommunistischen Partei und der Sozialistischen Partei geschuldet, die sie konstant zu begrenzen versuchten, und andererseits dem Fehlen einer revolutionären Partei, die auf eine solche Entwicklung dieser Organe gesetzt hätte.

Das Ziel des Slogans der Verfassungsgebenden Versammlung besteht darin, den Prozess selbst oder im Falle ihrer Konkretion auch ihre Resolutionen zu verteidigen und so den (bürgerlichen) Staat mit seinen Streitkräften bezwingen zu können. Dies geschieht, indem die Machtorgane der Arbeiter*innenklasse (Sowjets und Milizen) entwickelt werden, die ihre Macht ersetzen können. [1] Wie Trotzki sagte, besteht das Problem darin, „die Möglichkeit [zu erläutern], die Verfassungsgebende Versammlung und die Sowjets in Organisationen einer selben Klasse zu verwandeln, niemals eine bürgerliche Verfassungsgebende Versammlung mit proletarischen Sowjets zu kombinieren.“

Hegemonie und Partei

Worum es sich also gerade handelt, ist nicht, unkritisch die „staatsbürgerlichen“ Formen zu übernehmen, die die Revolte in der heutigen Zeit annimmt, sondern dafür zu kämpfen, dass die Arbeiter*innenklasse es schafft, als solche zu intervenieren und verschiedene Sektoren im Kampf um sich herum zu artikulieren. Daher die Wichtigkeit der Entwicklung von Koordinationsinstanzen und Organen der Selbstorganisation, die perspektivisch der Keim zukünftiger Räte sein können, einer alternativen Macht der Arbeiter*innenklasse und der Unterdrückten. Ebenso die Wichtigkeit des Kampfes gegen die Gewerkschaftsbürokratie, die, wie wir in Frankreich mit den Gelbwesten oder aktuell in Chile sehen, die organisierte Arbeiter*innenbewegung im Korsett des gewerkschaftlichen Kampfes einerseits und der „staatsbürgerlichen“ Politik andererseits gefangen halten will. Denn so trennen sie die organisierte Arbeiter*innenbewegung vom Rest der Arbeiter*innenklasse und beschränken die Möglichkeit, dass diese eine hegemoniale Rolle einnimmt.

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Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass die Hegemonie der Arbeiter*innen und jener Organe sowjetischen Typs sich völlig spontan entwickeln würden, wenn der Klassenkampf sich zuspitzt. Es ist die Existenz einer revolutionären politischen Organisation nötig, die genügend Gewicht besitzt, um fähig zu sein, die Avantgarde mit dieser „sowjetischen“ Perspektive und einem Programm zu formen, um nicht nur diese oder jene Regierung zu konfrontieren, sondern das bürgerliche Regime als Ganzes. Eine Organisation, die, wie Trotzki in seiner Geschichte der Russischen Revolution sagt, das Äquivalent derjenigen „Arbeiter Lenins“ schmiedet, die durch die politische Agitation der Bolschewiki in einem revolutionären Übergangsprogramm geschult waren und die in der russischen Februarrevolution 1917 zentral für den Sturz des Zarismus waren.

In Chile macht sich gerade die Abwesenheit einer landesweit präsenten revolutionären Partei mit diesen Merkmalen bemerkbar. Unsere Genoss*innen der PTR in Chile kämpfen dafür, sie aufzubauen. In Argentinien hat die kürzliche Kampagne der FIT-U, die breiteste Massen mit einem Übergangsprogramm zur Konfrontation des gesamten Regimes erreicht hat, dazu beigetragen, dass die revolutionäre Linke angesichts eventueller Prozesse des Klassenkampfes wie sie heute auf der anderen Seite der Anden stattfinden, besser vorbereitet ist. Darum geht es.

Fußnote
[1] Es gibt Vorschläge, die nichts weniger als an dieser großen Frage des Klassencharakters des Staates vorbeigehen, wie beispielsweise der von Jorge Altamira, der sagt, dass man für eine „souveräne verfassungsgebende Versammlung, die die politische Führung des Staates übernimmt“, kämpfen muss, ohne zu sagen welcher Klasse der Staat gehört.

Dieser Text erschien zuerst auf Spanisch in Ideas de Izquierda am 03.11.2019.

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