Lenin auf der Fusion

10.07.2012, Lesezeit 6 Min.
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Vom 28. Juni bis 1. Juli versammelten sich gut 70.000 Menschen auf einem ehemaligen sowjetischen Militärflugplatz in Mecklenburg für die FUSION. Auf diesem nicht kommerziellen Festival, mit Bühnen in alten Flugzeughangars, herrscht gute Stimmung. Im Vergleich zu anderen Festivals fällt auf, dass es keine uniformierten Securitys gibt, die meisten Aufgaben werden von Freiwilligen erledigt (die dafür einen Teil des Ticketpreises zurückbekommen) und auch viele KünstlerInnen verzichten auf ihre Gagen und spenden das Geld an einen Fonds zur Förderung linker Jugendkultur. Das widerlegt den „gesunden Menschenverstand“, wonach Leute nur für Geld arbeiten würden – sie arbeiten auch, um sich selbst und ihren Mitmenschen eine schöne Zeit zu ermöglichen. Oder wie Lea-Won mal rappte: „JedeR will sich anstrengen, wenn es Sinn ergibt“ (Perspektive Joblos).

Die VeranstalterInnen nennen das „Ferienkommunismus“. Das Gesicht von W.I. Lenin mit dicken Kopfhörern prägt auf den Eintrittskarten. Da stellt sich die Frage, wie viel Kommunismus in den vier Tagen im Dorf Lärz wirklich vorhanden ist. So meinte ein Festivalbesucher, der im selbsternannten „Kommunismus“ in Polen aufgewachsen und nicht gut auf das System zu sprechen ist: „Die FUSION ist der einzige Ort auf der Welt, wo der Kommunismus funktioniert.“

Auf den ersten Blick scheint das Festival annähernd komplett dezentralisiert und selbstorganisiert, was auf die vor allem autonom geprägte Ideologie zurückzuführen ist. Doch schon ein Blick auf den in der Karte verzeichneten Hangar des Vereins „Kulturkosmos“ zeigt, dass dahinter eine Organisationsstruktur steckt, die das Festival am laufen hält. Er heißt, halb scherzhaft, „Zentralkomitee“ – aber es ist tatsächlich ein professionelles Verwaltungsteam, welches die Armeen von Freiwilligen in Hierarchien organisiert, um die anstehende Arbeit zu erledigen. Das Festival funktioniert nach dem Motto: Soviel Basisorganisation wie möglich, aber so viele zentrale Entscheidungen wie nötig. Gerade in Notfällen – und es gab dieses Jahr richtige Weltuntergangsstürme – sind schnelle Entscheidungen vonnöten, die keine Basisabstimmung erlauben.

Im Gegensatz zu einem Hippyfestival gibt es hier Zentralismus – doch einen, der delegiert ist und der soviel lokale Selbstverwaltung wie nur möglich fördert. Das ist – es mag manche Autonome überraschen – nicht so weit von den Vorstellungen des „autoritären“ und „zentralistischen“ Lenins. So schrieb er: „Der Zentralismus schließt (…) nicht im geringsten jene weitgehende lokale Selbstverwaltung aus, die, bei freiwilliger Wahrung der Einheit des [revolutionären ArbeiterInnen-]Staates durch die ‚Kommunen‘ und Provinzen, jeden Bürokratismus und jedes ‚Kommandieren‘ von oben unbedingt beseitigt.“ (Staat und Revolution)

Autonome lehnen „Hierarchien“ und „Autorität“ – und die „Sekten“ des Trotzkismus – in der Regel ab, doch ihre ganze Szene funktioniert eigentlich über professionelle Strukturen von langjährigen AktivistInnen, also „autonome Kadergruppen“ wie Avanti, die ALB usw. Auch auf der FUSION kann man diesen Widerspruch entdecken: Es gibt Securitys ohne Uniformen, die gegen Nazis, RassistInnen, Homophobe und andere Menschen, die die Freiheit der anderen BesucherInnen einschränken, entschlossen vorgehen. Das ist ein notwendiger und legitimierter Zwang der Mehrheit der FestivalbesucherInnen gegen die Minderheit, die die Spielregeln nicht einhält – es ist genauso wie der Zwang, den die arbeitende Mehrheit der Gesellschaft in der Revolution gegen die ausbeutende Minderheit wird anwenden müssen.

Durch das Prinzip der freiwilligen Arbeit scheint die FUSION dem Anspruch von Marx ziemlich nah zu kommen: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ (Krititk des Gothaer Programms). Doch diese „Paralellgesellschaft“ existiert trotzdem im Kapitalismus. So gibt es Geld (und damit Ungleichheiten aller Art unter den BesucherInnen) und auch verschiedenste Formen der Lohnarbeit vor Ort: LohnarbeiterInnen transportieren Bier, verkaufen Essen und putzen Klos. Noch mehr Lohnarbeit ist außerhalb des Geländes notwendig: Bier und Boxen herstellen, Busse und Züge fahren, Karten drucken usw. usf.

Der Kommunismus ist keine Einstellung und auch keine „Utopie“, die man anstreben soll aber nicht erreichen kann. Der Kommunismus bedeutet die Überwindung der Klassengegensätze. Es geht um eine Gesellschaft, in der jede Tätigkeit (ähnlich wie jede Feier, wobei die Grenzen dazwischen nach der Überwindung des Kapitalismus tendenziell verschwinden werden) gemeinsam von allen für alle gestaltet wird. Oder wie Marx das ausdruckte: „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die die Bedingung für freie Entwicklung aller ist.“ (Manifest der Kommunistischen Partei) Der Kommunismus benötigt also keine vervielfältigte FUSION oder immer mehr Freiräume im System, sondern den gesamtgesellschaftlichen Kampf aller Lohnabhängigen zum Sturz des Lohnsystems. Oder nochmal mit einem Marx-Zitat: „Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.” (Die Deutsche Ideologie)

Die FUSION ist also – stellen wir mal sicherheitshalber fest – kein Kommunismus. Es ist ein vier Tage gelebter Traum, wie der Kommunismus aussehen könnte – genauso wie die besetzte Keramikfabrik Zanon in Argentinien einen Traum von einem Wirtschaftssystem unter Kontrolle der ArbeiterInnenklasse darstellt. Aber träumen ist nichts Schlimmes! Wichtig ist nur, dass wir unsere Träume nicht auf die Ferienzeit beschränken, sondern tatsächlich umzusetzen versuchen. Wie der alte Lenin in „Was tun?“ über seine Träume schrieb: „Der Zwiespalt zwischen Traum und Wirklichkeit ist nicht schädlich, wenn nur der Träumende ernstlich an seinen Traum glaubt, wenn er das Leben aufmerksam beobachtet, seine Beobachtungen mit seinen Luftschlössern vergleicht und überhaupt gewissenhaft an der Realisierung seines Traumgebildes arbeitet.“ (Was tun?)

Also lasst uns träumen! Aber lasst uns gleichzeitig dafür kämpfen, diesen kleinen Traum des Kommunismus zur Wirklichkeit zu machen! Wie dieser Kampf aussehen könnte und wir uns selbst und andere Lohnabhängigen für diesen Kampf gewinnen können, darüber müssen wir wohl noch diskutieren. Dafür bietet Lenin einige gute Ansätze, nicht nur mit seiner Konterfei sondern vor allem mit seinen Schriften.

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