Ist es ein Junge* oder ein Mädchen*?

08.03.2013, Lesezeit 3 Min.
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Mit Hilfe von Ultraschall wird der Mensch schon vor seiner Geburt zu Mann* oder Frau* erklärt. Damit werden die ihm*ihr später anzuerziehenden Vorlieben und Interessen genauso festgelegt, wie seine*ihre Lohnerwartungen; und das noch bevor der Mensch überhaupt seinen ersten Atemzug gemacht hat. Damit nicht genug: Stellt sich im Kreißsaal heraus, dass die äußeren Fortpflanzungsorgane nicht ganz den zwei-geschlechtlichen Normen entsprechen, steht dem*der Neugeborenen schon bald die erste Operation ins Haus, um diese Abweichung zu beheben.

Und auch später gilt: Bloß nichts dem Zufall überlassen! Die ersten Lebensjahre wird das Kind durch die Farben seiner Zimmerwände, von der Wahl seiner Spielzeuge bis hin zu den unterschiedlichen Anforderungen im Sportunterricht auf sein Geschlecht eingeschworen.

Doch warum all das? Setzt sich die natürliche Ordnung der Geschlechter nicht von alleine durch? Nun, vielleicht ist die Norm der Zwei-Geschlechtlichkeit gar nicht so natürlich: Die Kategorien von Mann* und Frau* beinhalten eine Vielzahl an Eigenschaftszuschreibungen – von der Selbstsicherheit über Beziehungs- und Fürsorgefähigkeit bis hin zur Mathe-Note. Die Fortpflanzungsorgane können wohl kaum für all das verantwortlich sein. Und die Chromosomen? Sie sind nichts anderes, als Träger einer Vielzahl unterschiedlichster interaktiver Gene, die in ihrer Komplexität bis heute nicht erforscht sind. Tatsächlich gibt es kein eindeutiges biologisches Merkmal, das die Kategorie männlich/weiblich rechtfertigen würde.

Der menschliche Körper ist viel komplexer als die Idee der Zwei-Geschlechtlichkeit; Menschen sind biologisch weit mehr als nur entweder Mann* oder Frau*. Nicht der Körper schreibt Zwei-Geschlechtlichkeit vor. Vielmehr sind es menschliche, also gesellschaftliche Vorstellungen von diesem Körper. Und diese Vorstellungen sind so eng, grob und vergänglich, wie die Gesellschaft, die sie erzeugt: Die Klassengesellschaft beziehungsweise der Kapitalismus.

Die Vorstellungen von Mann* und Frau* sind die gesamte Geschichte hindurch im Wandel. Die Indigene Bevölkerung Nord- und Südamerikas kannten oftmals Dreigeschlechtlichkeit als Norm. Die ursprünglichen Stammeskulturen und ihre Vorgängerinnen ordneten sich gar nicht nach Geschlecht.

Was nun? Lehrt das Sexismus zu ignorieren, weil Zwei-Geschlechtlichkeit biologisch nicht existiert? Nein!
Mann* und Frau* sind zwar keine biologische Realität, aber sehr wohl eine gesellschaftliche. Wie real sie ist, spüren besonders lohnabhängige Frauen* und erst recht Menschen, die ganz offensichtlich aus der Zwei-Geschlechtlichkeit heraus fallen, ebenso wie jeder einzelne Junge* und jedes einzelne Mädchen*, das mit Gewalt in das zwei-geschlechtliche System gepresst wird. Das darf nicht ignoriert werden!

Das oben Gesagte muss bewusst machen, was an Stelle der heutigen sexistischen Unterdrückung möglich ist: Eine Gesellschaft mit Vielfalt statt Sexismus. Damit diese aber erreicht werden kann, muss die gesellschaftliche Realität der Zwei-Geschlechtlichkeit im politischen Handeln wahrgenommen werden, wie sie sich trotz aller biologischen Haltlosigkeit hartnäckig in den geschlechtlichen Lohnunterschieden, den Arbeitslosenzahlen und den Statistiken der häuslichen Gewalt zeigt.

Um dem rein gesellschaftlichen Charakter der Zwei-Geschlechtlichkeit Rechnung zu tragen, markieren wir bestimmte Begriffe mit einem *.

Dieser Text erschien in dem Flugblatt „Brot und Rosen“, dass zum 8.März 2013 von unabhängigen Frauen* und RIO erstellt wurde.

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