Die Rebellion der Massen in Chile und die Aufgaben der Revolutionär*innen

27.10.2019, Lesezeit 15 Min.
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Die revolutionären Tage, die wir heute in Chile erleben, stellen uns vor konkrete Aufgaben, um das bürgerliche Regime zu konfrontieren: aktiver Generalstreik bis zum Sturz des Ausnahmezustands und dieser massenfeindlichen und autoritären Regierung, und die Durchsetzung einer freien und souveränen verfassungsgebenden Versammlung auf den Trümmern des Regimes. Wie setzen wir das durch? Wie verhindern wir die parlamentarische Ablenkung?

Die Straße und der Klassenkampf haben der Regierung von Piñera und dem Regime erneut einen Schlag versetzt. Dieses will mit Hilfe eines Paktes oder „Konsenses“ mit den Parteien der ehemaligen Mitte-Links-Koalition Concertación überleben und sich retten, indem es die „Regierungsfähigkeit“ mit einer „Sozialagenda“ wiederherstellt. Doch diese „Sozialagenda“ ist nichts anderes als „Zugeständnisse“ mit Kleingedrucktem, neoliberale Maßnahmen (Subventionen), die den Unternehmen als Reaktion auf die legitimen Bestrebungen der Massen Ressourcen zurückgeben. Das „Ohr“ für soziale Forderungen, das die Regierung neuerdings angeblich hat, ist ein verzweifelter Akt, um den Kampf abzulenken, das verletzte Regime zu schützen und die Repression zu legitimieren.

Dieses blinde Um-Sich-Schlagen der Regierung findet im Rahmen einer Woche statt, in der die Arbeiter*innenklasse (Hafenarbeiter*innen, Bergleute) und die Studierendenbewegung in den Kampf getreten sind. Auch die Bürokratien der Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen (CUT, No+AFP, Confech, etc.), die im „Sozialtisch“ zusammengeschlossen sind, mussten sich umorientieren: Unter dem Druck verschiedener Sektoren beschlossen sie, nicht mehr nur passiv zuzuschauen und Reden zu schwingen, und riefen zu einem „Generalstreik“ auf.

Doch der Aufruf der Bürokratie zu einem „Generalstreik“ war bei weitem kein echter Generalstreik der Massen, da die Bürokratie sich weigert diesen zu organisieren. Denn ihre wirkliche Politik und Strategie (d.h. die der Kommunistischen Partei und der reformistischen Frente Amplio) besteht darin, „Druck“ auszuüben, um mit der autoritären Regierung in „Dialog“ zu treten, die bereits ihre parlamentarische Ablenkung plant und das Militär weiterhin auf die Straße schickt. Aber mit unseren Toten wird nicht verhandelt! Eine solche Strategie führt diese revolutionären Tage in die klassische Sackgasse: ein Dialog, der alle Kräfte demobilisiert und in den Kongress kanalisiert, was nichts anderes bedeutet, als der Regierung und dem Regime frischen Wind zu geben.

Die Mobilisierungen der letzten Tage zeigten, dass es eine enorme soziale Kraft von Arbeiter*innen, Jugendlichen, Frauen und indigenen Gemeinschaften gibt. Millionen Menschen mobilisieren sich, um die Regierung herauszufordern; die Bereitschaft, Stärke und Energie, zu kämpfen und zu gewinnen, sind vorhanden. Was heute notwendig ist, ist einen echten Generalstreik mit Mobilisierung zu entwickeln, bis der Ausnahmezustand und die Regierung von Piñera gestürzt sind.

Aber damit sich dies entwickeln kann, ist der politische Kampf gegen die Bürokratie unerlässlich, die die Massenbewegung zähmen will, indem sie die Entwicklung der Selbstorganisation und die Aktionseinheit gegen das Regime und den Staat einschränkt. Als Revolutionär*innen kämpfen wir immer für diese Perspektive, aber sie erhält einen anderen Charakter, wenn die Realität und Dynamik des Klassenkampfes Szenarien wie das aktuelle aufzwingen, in denen es notwendig ist, einen Sprung in der Situation zu machen.

Die gestellten Aufgaben und ihre Durchführung

Wir befinden uns in einer Situation mit vorrevolutionären Zügen: die aufständischen Elemente der vergangenen Tage, der elementare Hass auf die Regierung, das Regime, die Polizei und das Militär, die sich in der Kampfbereitschaft und sogar der „Wildheit“ der Rebellion ausdrückten. Eine Bewegung des „extremen Drucks“ als Reaktion und zur Verteidigung angesichts einer verzweifelten Situation, die weite Teile der Bevölkerung erleben.

Die Wende der rechten Regierung und der Mitte-Links-Parteien der ehemaligen Concertación konzentrierte sich darauf, die friedliche Demonstration von den aufständischsten und kämpferischsten Ausdrücken abzuspalten. Ihre Strategie besteht darin, einen Keil zwischen den entschlossensten Sektor und dem Kampf der Massen zu treiben, indem sie harte Repressionen und Zugeständnisse mit Kleingedrucktem kombiniert, die das Modell und das Regime intakt lassen.

Angesichts dessen besteht die revolutionärste Antwort darin, die Organisierung von Arbeiter*innensektoren, in Verbindung mit der Jugend, den Frauen und den Massen voranzutreiben, um Organe der Selbstorganisation zu entwickeln und einen Generalstreik der Massen zu entfesseln, bis der Ausnahmezustand und die Regierung fallen. Die gewaltige Spontanität der entfesselten Massen allein hat nicht ausgereicht, damit die Phänomene der Selbstorganisation, die sich als Komitees, Versammlungen, Koordinationen entwickelt haben, sich verallgemeinern und den Ton angeben; noch weniger, um eine revolutionäre Führung in diesem Prozess zu erobern, um tatsächlich zu gewinnen. Und es ist diese Herausforderung, mit der die Prozesse des Aufstiegs des Kampfes und die revolutionären Prozesse im Laufe der Geschichte konfrontiert waren: die Grenzen der Bürokratie zu überwinden, um alle Kräfte und die fortschrittlichsten Tendenzen freizusetzen, sowie die Notwendigkeit der Kunst der Strategie für den Sieg. Beides sind Aufgaben, auf die sich eine revolutionäre Partei vorbereiten muss.

Die Krümel, die Piñera am Dienstagabend im nationalen Fernsehen angekündigt hat, zeigen, dass das von der Diktatur übernommene autoritäre Regime nicht bereit ist, etwas Strukturelles zu verändern, das die Lebensbedingungen der Arbeiter*innenklasse und der Massen verändern würde; weder vom Erbe der Diktatur noch von den großen herrschenden Mächten des Landes wird irgendetwas angetastet.

Die erste Aufgabe, die uns diese Realität aufzwingt, besteht darin, auf die Manöver des Regimes hinzuweisen, die Krümel der Regierung zu verurteilen, überall die Organismen der Selbstorganisation, der Koordination, der Einberufung von Versammlungen, der Forderungen an die Bürokratie zu organisieren. Wir müssen offen den Generalstreik der Massen vorantreiben, um das Militär von der Straße zu holen und diese ohnehin schon schwer verletzte Regierung zu besiegen.

Wir müssen die fortschrittlichsten Sektoren organisieren, damit sie zu einem Beispiel und einem Leuchtturm werden: wie in Antofagasta mit dem Sicherheits- und Schutzkomitee, im Barros Luco-Krankenhaus und im Kulturellen Zentrum Gabriela Mistral GAM mit der Gründung des „Cordón Centro“. Die Entwicklung von Organen der Selbstorganisation ist eine Notwendigkeit, um die Grenzen der Gewerkschaftsbürokratie zu überwinden, die die Macht auf den Straßen ständig in die schmalen Grenzen des bloßen „staatsbürgerlichen“ Drucks verbannt. Eine Politik, die sich heute, inmitten der revolutionären Tage, darauf beschränkt, das „linke Feigenblatt“ eines Regimes zu sein, das Hunderttausende stürzen wollen.

Die Arbeiter*innen, Jugendlichen und Frauen werden nach ihren eigenen Erfahrungen mit der Organisation, den Kampfausschüssen, den Koordinierungsausschüssen, der Organisation verschiedener Kommissionen erkennen, was die größte Grenze für die effektive Organisierung von der Basis und für die Führung durch die fortschrittlichsten Sektor ist: die politische und gewerkschaftliche Bürokratie selbst. Indem diese ihre Methoden und Politiken durchsetzt und sich weigert, die demokratischsten Methoden des Kampfes zu entwickeln, wird sie zu einer Art politischer Polizei gegen die fortschrittlichsten Sektoren.

Was wir brauchen, ist ein echter Generalstreik der Massen, nicht ein teilweiser und isolierter Marsch zum „Dampf ablassen“, während die Regierung ihren Umweg vorbereitet. Ein Streik, der die Produktion lahmlegt, der die kreative und militante Energie der Arbeiter*innenklasse freisetzt, der die angeschlagene Regierung in Schach hält. Für diese Perspektive kämpfen wir als revolutionäre Sozialist*innen.

Wenn in diesen revolutionären Tagen bisher Hunderttausenden von Menschen etwas klar geworden ist, dann dass es nur durch den Klassenkampf möglich ist, der Unnachgiebigkeit der Kapitalist*innen etwas entgegen zu setzen. Wie Leo Trotzki sagte: „Die Kapitalisten können den Arbeitern in etwas nachgeben nur auf die Gefahr hin, alles zu verlieren.“ Und das ist die gegenwärtige Situation: Sie fürchten, dass die Situation einen Sprung machen wird, dass sie von einer Situation mit revolutionären Zügen zu einer Situation übergeht, die offen revolutionär ist und ihr Eigentum und ihren Staat in Frage stellt und ihr Regime stürzt, das als Beispiel und Modell für die lateinamerikanische Rechte galt.

Eine Sache ist die Unnachgiebigkeit der Kapitalist*innen, aber eine ganz andere ist ihr Widerstand, um ihr Modell, ihr Eigentum, ihre Plünderung und ihre Ausbeutung aufrechtzuerhalten. Sie wissen, dass der Sturz der Regierung durch einen Generalstreik ein sehr großer Riss wäre, der die Kampfbereitschaft und das Vertrauen in die Methoden des Klassenkampfes erhöhen würde. Die große Mehrheit würde ihren Wunsch verstärken, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Der Ruf der Massen, dass Piñera und seine blutbeschmierte Regierung zurücktreten, wird nicht ohne die Methoden des Klassenkampfes erreicht werden – geschweige denn die Verwirklichung aller Forderungen der Massen, die nur durch den Bruch mit den Kapitalist*innen und gegen ihre Gewinne vollständig erreicht werden können.

Es ist ein Problem konkreter Kräfteverhältnisse, ob die Regierung die revolutionären Tage ablenkt, oder ob diese einen Sprung machen und der Regierung eine entscheidende Niederlage bescheren, was die Möglichkeit eröffnen würde, auf den Trümmern des Regimes eine freie und souveräne verfassungsgebende Versammlung einzusetzen. Wir setzen alle unsere Energien für die Entwicklung des zweiten Weges ein. Auch wenn es nicht von uns abhängt, welchen Weg die Situation nimmt, setzen wir alle unsere Kräfte ein, um den Weg für einen revolutionären Prozess günstig zu gestalten.

Übergangsprogramm und sowjetische Strategie für den Sieg

Als revolutionäre Sozialist*innen intervenieren wir politisch und in alle Prozesse des Klassenkampfes, um das politische Werkzeug der Arbeiter*innenklasse aufzubauen, das in einem Moment des revolutionären Aufstiegs den Ausschlag zugunsten der Verwirklichung der sozialistischen Revolution der Arbeiter*innen geben kann, welche der Diktatur des Kapitals ein Ende setzt. Auf diesem Weg schlagen wir die Eroberung einer Arbeiter*innenregierung vor, die mit den Kapitalist*innen bricht. Wir sind dafür, sie zu enteignen, und wir kämpfen für eine Demokratie, die denjenigen der bürgerlichen Republiken weit überlegen ist, welche nichts anderes sind als der beste Schutzpanzer der Diktatur des Kapitals. Wir kämpfen für eine Republik, die durch Räte von Delegierten organisiert wird, die ausgehend von der Produktionseinheit (Fabrik, Unternehmen usw.) gewählt werden, damit die Arbeiter*innen selbst regieren und den politischen Kurs der Gesellschaft und die Planung der wirtschaftlichen Ressourcen auf der Grundlage des staatlichen Eigentums an den Produktionsmitteln festlegen.

Wir intervenieren in den Klassenkampf mit einem revolutionären Aktionsprogramm, das die „unmittelbare Notwendigkeit“, wie in diesem Fall das Ende des Ausnahmezustands und der Rücktritt Piñeras, mit Übergangsforderungen (d.h. einer Brücke zwischen den aktuellen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution) und mit Forderungen im Zusammenhang mit der sowjetischen Strategie (in diesem Fall Koordinierungsversammlungen, Entwicklung der Selbstorganisation zur Förderung des Generalstreiks der Massen) verknüpft. Ein solches Aktionsprogramm bereitet auf den Kampf gegen das kapitalistische System der Produktion und Reproduktion vor. Das heißt, es ist eine Reihe von Forderungen, die als Ganzes eine Übergangsrolle in einer revolutionären Perspektive hin zur Diktatur des Proletariats spielen.

Wir wissen, dass diese Perspektive noch nicht von der Mehrheit geteilt wird, die immer noch auf die Mechanismen der repräsentativen Demokratie vertraut. Deshalb schlagen wir vor, angesichts der derzeitigen politischen Situation eine Freie und Souveräne Verfassungsgebende Versammlung einzuführen, und zwar ausgehend vom Sturz der Regierung und auf den Trümmern dieses Regimes. Eine verfassungsgebende Versammlung ist die demokratischste Instanz bürgerlicher Demokratie, aber die vermeintlichen „Demokraten“ sind nicht bereit, eine Instanz zu entwickeln, die die Macht in die Hände der überwältigenden Mehrheiten legt, welche Maßnahmen gegen die Kapitalist*innen ergreifen könnte. Im Gegenteil rüsten sie sich dafür, dass dies nicht der Fall wird.

Wir kämpfen für eine Verfassungsgebende Versammlung mit gewählten und jederzeit abwählbaren Vertreter*innen pro 20.000 Wähler*innen, die einen durchschnittlichen Arbeiter*innenlohn verdienen und die ungehindert alle sozialen und politischen Notmaßnahmen zum Wohle der Werktätigen diskutieren. Eine Versammlung, in der wir für die Einführung eines Programms kämpfen, das Maßnahmen wie Mindestlöhne und Renten einführt, die die Bedürfnisse der gesamten Familie erfüllen können; öffentliche Verkehrsmittel, die von Arbeiter*innen und Nutzer*innen verwaltet werden, die die Tarife gemeinsam mit den Arbeiter*innen festlegen; kostenlose Bildung und öffentliche Gesundheit sowie die Verstaatlichung von Kupfer unter der Leitung der Arbeiter*innen, und weiterer Maßnahmen in diesem Sinne. Völlig souverän, d.h., dass keine andere staatliche Institution über ihr steht.

Aber wir sind nicht naiv. Wir wissen, dass je mehr Fortschritte bei radikalen Maßnahmen gemacht werden, desto größer wird der Widerstand der Kapitalist*innen sein. Es wurde mehr als bewiesen, dass die Rolle von Polizei und Militär darin besteht, die Interessen der Kapitalist*innen gegen die Arbeiter*innen zu verteidigen, auch wenn dies bedeutet, Dutzende von Toten zu hinterlassen. Der Staat, der auf einer Armee und repressiven Kräften mit einem Gewaltmonopol basiert, hat einen klaren bürgerlichen Klassencharakter.

Wir nehmen das Erbe der russischen Revolution und der sowjetischen Strategie auf, das auf der Entwicklung der Organe der Arbeiter*innenmacht im Bündnis mit den sozialen Sektoren basiert, die durch dieses System verarmt sind, das nur Elend bietet. Diese Organe der Selbstorganisation der Massen – mit einer proletarischen Hegemonie – und die Methoden des Klassenkampfes bereiten das Proletariat und alle verarmten Schichten sowohl politisch als auch materiell auf den Kampf vor. Der Kampf um die Durchsetzung der Interessen der breiten Mehrheiten wird von den Kapitalist*innen mit legalem (Militär und Sicherheitskräfte) und paralegalem (paramilitärische faschistische Banden) Widerstand der bürgerlichen Ordnung konfrontiert werden, wie bereits bei dem Einsatz des Militärs auf der Straße zu beobachten war. Angesichts dieses gewalttätigen Widerstands des Kapitals wird die Entwicklung der demokratischen Organe der Massen zur Grundlage ihrer eigenen Verteidigung.

Es werden diese Erfahrungen im Klassenkampf sein, in dem immer breitere Teile der Werktätigen ihre Erfahrungen mit der repräsentativen Demokratie machen und die Notwendigkeit sehen, sich aus den Unternehmen, Fabriken, dem Verkehr, den Schulen und Fakultäten zu organisieren, um ihre eigenen demokratischen Machtorgane und ihre eigenen Selbstverteidigungsorganisationen zu entwickeln.

Wir haben keinen Zweifel daran, dass die Bourgeoisie ihre Waffen erheben wird, wenn weite Teile der Massen sich vornehmen, die Macht zu erobern und ihre eigenen Organe der Selbstbestimmung zu entwickeln – und zwar mit allen militärischen, polizeilichen und halbstaatlichen Kräften, die sie gegen den revolutionären Aufstieg der Arbeiter*innen an die Macht mobilisieren können, wie sie es gegen die Rätestrukturen der Cordones Industriales und den revolutionären Aufstieg der 70er Jahre in Chile taten, welchen sie 1973 mittels Putsch, Unterdrückung, Folter und Ermordung abwürgten. Aber der Sieg wäre möglich gewesen, mit einer richtigen revolutionären Strategie und einer Partei, die in den Erfahrungen und Prüfungen des Klassenkampfes verwurzelt ist, wie die, die wir als Mitglieder der Partei Revolutionärer Arbeiter*innen (PTR) in Fusion mit der Avantgarde, die jede Erfahrung des Klassenkampfes hervorbringt, aufbauen wollen.

Dieser Artikel erschien zuerst am 24. Oktober bei La Izquierda Diario Chile.

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