Die Illusionen des Neoreformismus

10.02.2015, Lesezeit 9 Min.
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// EUROPA: Reformistische Projekte erklimmen immer neue Höhen. Nachdem Syriza vor Kurzem die Wahlen in Griechenland gewann, will auch Podemos im Spanischen Staat die Regierung übernehmen. Was können die ArbeiterInnen und Massen von solchen Projekten erwarten? //

Mehr als 100.000 Menschen versammelten sich am 31. Januar auf dem Plaza del Sol in Madrid, wo vor fast vier Jahren die Empörten-Bewegung begann. „Präsident, Präsident“, riefen sie Pablo Iglesias, dem Generalsekretär von Podemos, zu. Dieser sagte, dass der Moment der Veränderung jetzt gekommen sei. Am Sonntag zuvor hatte sein griechischer Kollege Alexis Tsipras von Syriza die Wahlen in Griechenland gewonnen und bildet nun die neue Regierung. Manche erkennen einen Linksruck in ganz Europa.

Während in Ländern wie Frankreich oder Großbritannien rechte Parteien aufsteigen, konnte man in Ländern wie Spanien, Griechenland oder Irland im Verlauf der Krise auch ein rapides Wachstum linker Kräfte beobachten. In einer Situation, in der die Massen durch ihre Wut und Ablehnung die bestehenden Regime in eine Krise stürzen, können diese Organisationen mit ihren Verurteilungen der „politischen Kaste“ punkten. Gleichzeitig versuchen ältere reformistische Parteien wie „Die Linke“ von diesen Triumphen zu profitieren. Millionen von Menschen haben Hoffnungen in diese Parteien – doch was genau steht hinter diesen neoreformistischen Projekten?

Der Fehler in der Konstruktion

Syriza bildet nun eine Regierung gemeinsam mit der rechten, nationalistischen ANEL (Unabhängige Griechen). Nach nur wenigen Tagen zeigt diese Koalition, welche „Veränderungen“ von diesen Parteien zu erwarten sind.

Bei den Wahlen 2009 auf weniger als fünf Prozent der Stimmen gekommen, hatte Syriza 2012 plötzlich die Möglichkeit, stärkste Partei zu werden. Dort hatten sie noch die Nichtzahlung der „illegitimen“ Schulden sowie die Verstaatlichung der Banken als Teil ihres Programms für eine „linke Regierung“ gefordert.

Seit den letzten Wahlen sorgte Syriza vor allem dafür, dass die zahlreichen Kämpfe der griechischen Massen, von denen die 32 Generalstreiks nur eine Hausnummer sind, in parlamentarische Bahnen gelenkt wurden. Die Hoffnung darin, eine Syriza-Regierung würde die soziale Misere beenden, leitete das Abklingen einer Mobilisierungswelle ein.

Zur gleichen Zeit fand eine andere Entwicklung statt: Syriza, erpicht darauf, die Wahlen zu gewinnen, musste sich als eine „ernstzunehmende“ und „vertrauenswürdige“ Kraft präsentieren. So ist Tsipras‘ Präsentation in der City of London, seine Artikel in einigen imperialistischen Blättern und seine mantraartige Bestätigung, Griechenland werde nicht aus dem Euro oder der EU austreten und schon gar keine „einseitigen Maßnahmen“ durchführen, zu verstehen.

An der Regierung setzt sich dieser Kurs fort und beschleunigt sich sogar: Zuerst wurde die rassistische und christlich-orthodoxe ANEL als Koalitionspartnerin in die Regierung aufgenommen, und ihr Anführer zum Verteidigungsminister ernannt. Im Tausch mit einigen sozialen Zugeständnissen wird versprochen, die Trennung von Kirche und Staat nicht weiter zu verfolgen. Eine kurze Aufregung herrschte, als Finanzminister Varoufakis verkündete, nicht mehr mit der Troika zu verhandeln – diese Drohung wurde jedoch schnell zurückgenommen, und nur Tage später loben bürgerliche KommentatorInnen die griechische Regierung für ihre „versöhnlichen“ Signale.

Eine ähnliche Entwicklung hat Podemos durchlaufen, auch wenn diese Formation aus dem Spanischen Staat kaum ein Jahr alt ist. Auch sie stellten sich mit einem radikaleren Programm zu den Europawahlen im Mai, bei denen sie mit mehr als einer Million Stimmen als Stern am Politikhimmel Spaniens aufgingen. Doch dieses Programm weichten sie nach und nach auf. Während Pablo Iglesias schon immer in allen Talkshows zu sehen war, traf er sich jetzt auch heimlich mit der alten Führungsriege der PSOE, die er in seinen öffentlichen Reden als Teil der politischen Kaste beschimpft. Das neue „Programm für die Leute“ von Podemos sieht eine Reihe neokeynesianischer Wirtschaftspolitiken vor, die mittels Hilfskrediten für kleine und mittlere Unternehmen eine Verbesserung der Lebenslage erreichen sollen.

Die ewige Leier des Reformismus

Was die Parteien des linken Neoreformismus – trotz aller Unterschiede in ihrer Basis und ihrer Struktur – vereint, ist ihr gemeinsames Interesse an einer Versöhnung der Klassen bzw. die Ignoranz der unversöhnlichen Widersprüche zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie. Um die sozialen Probleme der Massen zu lösen, so ihre Vorstellung, bedürfe es „nur“ der Eroberung des Staates auf parlamentarisch-legalistischem Wege – womit zugleich die Klassennatur des bürgerlichen Staats verneint und die Massen auf der Straße demobilisiert werden. Fatal ist das deshalb, weil die Krise nicht durch denselben kapitalistischen Staat gelöst werden kann, welcher die Rettung der Banken und Konzerne auf dem Rücken der lohnabhängigen Bevölkerung erst durchgesetzt hat.

Dabei geht es nicht allein um die vielleicht banale Erkenntnis, dass die Krise grundlegend nur durch die Überwindung des Kapitalismus selbst überwunden werden kann. Denn selbst die moderaten Versprechen, die Syriza nun in Griechenland macht, werden sich nicht durchsetzen lassen, wenn diese Auseinandersetzung nicht als ein Kampf zwischen den Klassen verstanden wird – und damit ein Kampf, der nur durch Mobilisierung auf den Straßen und vor allem in den Betrieben gegen den Widerstand der KapitalistInnen gewonnen werden kann. Dies gilt umso mehr, als dass der Gegner nicht nur das griechische Kapital ist, sondern vor allem das deutsche und europäische Kapital, welches Griechenland seit Beginn der Weltwirtschaftskrise von einer Misere in die nächste getrieben hat.

Gegen Merkel und die Troika helfen aber nicht Diplomatie und Verhandlungen, wie sie Tsipras und Co. vorschlagen. Denn die Logik der „besseren“ Verwaltung des kapitalistischen Staates sorgt dafür, dass aus der Ankündigung einer „linken Regierung“ schon jetzt immer stärker eine Regierung der „nationalen Einheit“ wird, die starke Züge einer Volksfront trägt. Diese Regierung kann keine Mobilisierung der griechischen Massen wollen.

Stattdessen setzt Syriza – und trotz einer etwas anderen Klassenbasis auch Podemos – darauf, inmitten einer enormen Krise des wirtschaftlichen und politischen Regimes mit einer beispiellosen Zerrüttung des politischen Establishments die Rolle der alten Sozialdemokratie einzunehmen. Damit kanalisieren sie die Wut der Massen auf die Auswirkungen der kapitalistischen Krise in für das Kapital vertretbare Bahnen.

Demgegenüber müsste in einer solchen Situation wie in Griechenland oder im Spanischen Staat, die sich durch eine enorme Desillusionierung mit der bürgerlichen Demokratie auszeichnet, erst recht ein Programm der politischen Unabhängigkeit des Proletariats aufgeworfen werden. Was gegen die Misere hilft, ist nicht eine Neuverhandlung der Schulden oder die Milderung der Sparpolitik, sondern die sofortige und entschädigungslose Verstaatlichung der Banken und der Produktionsmittel unter der demokratischen Kontrolle der ArbeiterInnen. Es handelt sich hier nicht um ferne Hirngespinste, sondern um unmittelbare Lebensnotwendigkeiten für breite Schichten der ArbeiterInnenklasse und der Jugend. Syriza hingegen steht für die Wiederherstellung der Legitimation des bürgerlich-kapitalistischen Regimes.

Von der Desillusionierung…

Von daher verwundert es immer wieder, wenn Gruppen mit einem revolutionären Anspruch Projekte wie Syriza unterstützen. Zwar reden sie von einer „kritischen Unterstützung“ zur Verbesserung der unmittelbaren Situation der Massen. Was sie aber nicht erklären, ist, wie der Aufbau einer revolutionären Alternative heute vonstatten gehen soll, wenn nicht auf der Basis des Aufbaus einer revolutionären Partei als Alternative zu Syriza und ähnlichen Projekten.

Fehlt aber diese Alternative – und das zeigen alle Beispiele der Geschichte, vor allem die linke Regierung der „Volksfront“ unter Salvador Allende von 1970-73 –, wird eine Desillusionierung in Syriza zu einem weiteren Aufschwung rechter Kräfte führen. Denn jene sind in dieser Situation die einzigen, deren Programm „gegen das System“ gerichtet scheint. Wenn die radikale Linke sich heute nur darauf beschränkt, auf den reformistischen Druck, der durch den Wahlsieg Syrizas entsteht, mit „kritischer Unterstützung“ zu antworten und darauf zu hoffen, dass quasi automatisch aus der Desillusionierung mit Syriza ein Aufstieg des Klassenkampfes in Europa entsteht – dann überlässt sie im schlimmsten Fall der extremen Rechten das Feld.

…zu einer revolutionären Perspektive

Alle Hoffnungen in den Reformismus werden notwendigerweise in Enttäuschungen münden. Dem müssen wir schon heute ein revolutionär-marxistisches Programm der Verstaatlichung der Banken, der entschädigungslosen Enteignung der Produktionsmittel sowie und vor allem der Zerschlagung des Staates und der Diktatur des Proletariats entgegensetzen. Unsere Perspektive ist keine „Neuausrichtung der EU“, sondern die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.

In den letzten zehn Jahren haben sich „linke Regierungen“ in Lateinamerika etabliert, zum Beispiel Hugo Chávez und Nicolás Maduro in Venezuela oder Néstor und Cristina Kirchner in Argentinien. Diese Regierungen haben keinerlei Bruch mit dem Kapitalismus gebracht – vielmehr haben sie die kapitalistischen Regime aus ihren Krisen gerettet. Viele linke Gruppen – in Lateinamerika, aber gerade auch in Europa – haben sich an diese Projekte angebiedert. Sie hielten die sozialen Konzessionen, die die Regierungen machen mussten, um die Massen ruhig zu halten, für Schritte zum „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“. Doch heute, wo die weltweite Krise auch diese Länder immer stärker trifft, zeigen Chavismus und Kirchnerismus ihr wahres Gesicht und greifen zu Repression und Spardiktaten.

Griechenland hat schon jetzt nicht den wirtschaftlichen und politischen Spielraum, der es den „progressiven“ linksbürgerlichen Regierungen Lateinamerikas ermöglichte, jahrelang gewisse Zugeständnisse an die ArbeiterInnenklasse zu machen. Warum sollte die Tsipras-Regierung ein anderes Schicksal erleiden als jene Projekte, wenn sie nicht durch die Mobilisierung der Massen auch und gerade gegen den versöhnlerischen Kurs von Syriza dazu gezwungen wird? Das will und kann die Syriza-euphorische Linke nicht erklären.

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