Die Euro-Krise spielt sich im Ausland ab…

11.09.2013, Lesezeit 10 Min.
1

// Notizen zur Lage in Deutschland vor den Bundestagswahlen //

„Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der deutschen Macht.“ So beschrieb der Historiker Brendan Simms Deutschlands Bestrebungen, zum dritten Mal in circa 100 Jahren die Kontrolle über Europa zu übernehmen.[1] Deutschland ist auf dem Weg zu unangefochtener Vormacht in Europa – jedoch weigert sich bisher die deutsche Bourgeoisie, die politischen Konsequenzen aus der Rolle des „unwilligen Hegemons“[2] zu tragen.

Deutschland zwingt den schwächeren Wirtschaften Europas einen rigiden Sparkurs auf und fordert Einsparungen unter dem perfiden Mantel der „Hilfsprogramme“. Diese erfolgen aber nicht aus Nächstenliebe, sondern zur Stabilisierung von Banken und Versicherungen, auch und insbesondere in Deutschland. Rezession, Massenarbeitslosigkeit und soziales Elend sind die Folge für die „geretteten“ Länder. Leider unterstützen große Teile der Bevölkerung in Deutschland (zumindest passiv) das Wirtschaftsjoch, das die deutsche Bourgeoisie Europa auferlegt. Viele identifizieren sich dabei mit der deutschen Macht, mit der deutschen Wirtschaft, mit den deutschen Unternehmen, denen heute Merkel das Gesicht leiht. Die von Reformismus und Gewerkschaftsbürokratie unisono mit den Bossen des Landes propagierte Standortlogik appelliert an die nationalistischen Vorurteile in Teilen der Bevölkerung. Angesichts des Erfolgs des „deutschen Modells“ nährt dies das Gefühl, wieder „wer zu sein“ in Europa. Die Folge ist die Vertiefung der künstlichen Spaltung der ProletarierInnen entlang nationaler Grenzen.

Aufgrund der sich bessernden Konjunkturdaten in den USA und in Europa erholt sich die Stimmung der herrschenden Klasse hierzulande. Der Abgrund scheint immer weiter weg zu rücken. Die Perspektiven für den Außenhandel gegenüber dem Herbst 2012 haben sich gebessert. Laut einer Prognose werden die „Ausfuhren von Waren und Dienstleistungen im laufendenJahr voraussichtlich real um 3½ Prozent und 2014 um 5 Prozent wachsen.“[3]

Dass die Aussichten dennoch nicht so ungetrübt sind, wie es sich mancher bürgerlicher Analyst wünscht, zeigen die sinkenden Ausfuhren in die Vereinigten Staaten – immerhin knapp ein Zehntel aller deutschen Exporte gehen in die USA. Sollte die konjunkturelle Erholung der US-Wirtschaft mager ausfallen, könnten selbst Wachstumsraten von drei Prozent, wie sie ExpertInnen für die deutschen Ausfuhren für dieses Jahr erwarten, kaum zu erreichen sein. „Die deutsche Exportwirtschaft muss sich daher auf magere Zeiten einstellen“, warnt der Außenhandelsverband BGA.[4]

Auch die chinesische Wirtschaft, einer der zentralen Wachstumsmärkte Deutschlands, lahmt. Weitere wichtige AbnehmerInnen von deutschen Produkten wie Brasilien oder Indien, das zur Zeit eine rasche Entwertung der Rupie durchmacht, können die ausfallenden Märkte nicht kompensieren.

Europa, wichtigster Absatzmarkt der deutschen Wirtschaft, liegt ebenfalls im Krankenbett: Die Wirtschaft schrumpft weiter ungebremst in den südlichen Ländern der Euro-Zone. Der Krisenvirus droht auf die Kernländer der Währungsunion überzugreifen: Es gibt sinkende Wirtschaftsleistung in den Niederlanden und Finnland, und Frankreich wird bald in die Rezession rutschen.

So bleibt Deutschland im Auge eines Hurrikans, der in Europa bereits heftig tobt. „Ein Kontinent, zerrissen von politischen Spannungen, heimgesucht von sich ausbreitender Reformmüdigkeit und vereint in der illusionären Hoffnung auf Erleichterung durch eine noch schneller rotierende Notenpresse.“[5]

Realität und Mythos der Stärken Deutschlands

Verblüfft schauen viele Menschen in Deutschland auf die dem Anschein nach hervorragenden Leistungen derer, die sie für den Erfolg verantwortlich machen. Der Bundeskanzlerin Angela Merkel wird die Verringerung der Arbeitslosigkeit und des Haushaltsdefizits zugeschrieben. In den Legislaturperioden von Merkel sank erstere von 11 auf 5,5 Prozent, letzteres von 3,3 auf 0 Prozent der Wirtschaftsleistung. Da fühlen sich viele Menschen zufrieden: Sie wähnen sich im Glück, nicht das gleiche Schicksal wie GriechInnen, SpanierInnen, Portugiesinnen oder ItalienerInnen teilen zu müssen.

Jedoch sieht die Realität etwas anders aus, als es der Konsens in Deutschland vermuten lässt. Kein Schlüsselsektor der deutschen Wirtschaft bleibt von den Folgen der Wirtschaftskrise in Europa völlig verschont: Europas Automarkt ist im freien Fall. Selbst BMW und VW müssen Federn lassen. Die Chemie, Deutschlands viertgrößter Industriezweig, wächst kaum. Die Nachfrage sinkt, und die US-Chemieindustrie gewinnt gegenüber Deutschland an Wettbewerbsfähigkeit, vor allem dank günstiger Energie- und Rohstoffpreise. Die Maschinenbaubranche leidet laut eigenen Angaben unter der Rezession im Euroraum und der schwachen Weltkonjunktur. Der „Einzelhandel mutiert zur Krisenbranche“[6]: Entlassungen, Umsatzeinbrüche, Pleiten.

Um die deutschen Staatsfinanzen ist es auch nicht zum Besten bestellt, denn das strukturelle Defizit – also jenes Haushaltsminus, das nicht auf konjunkturelle Schwankungen zurückzuführen ist – ist unverändert hoch.

Die Unterjochung des Auslands erfordert ein beugsames Proletariat

Die Krise schlägt in Deutschland immer größere Wogen. Angesichts der sinkenden Gewinnspanne für deutsche Unternehmen versuchen die KapitalistInnen, die sinkende Profitrate durch Angriffe auf die Lohnabhängigen in Deutschland wett zu machen. Noch ist Deutschland im Vergleich zu manchen NachbarInnen ein eher streikarmes Land. Diese Tendenz scheint sich aber umzukehren: Streiks bei der Bahn, bei den Schleusen, im Einzelhandel, Streiks der angestellten LehrerInnen in Berlin, bei Amazon, im Call-Center u.v.m.

Die Zahl der Streikenden nimmt zu, die Zahl der Streiktage geht nach oben. Laut einem Bericht der Hans-Böckler-Stiftung haben 2012 sechs Mal so viele Menschen an Streiks teilgenommen wie 2011, gleichzeitig verdoppelte sich die Zahl der ausgefallenen Arbeitstage, Tendenz steigend. Dies wirkt sich auch auf die politische Debatte in Deutschland aus, wo die Frage nach Sinn und Zweck von Streiks alltäglicher geworden ist: In Tagungen, Debatten, Publikationen wird von der „Erneuerung durch Streik“ gesprochen und selbst die migrantisch geprägten wilden Streiks der Jahre 1972-1973 werden wieder zum Thema. Diese Debatten jedoch werden von verschiedenen sozialdemokratischen Strömungen hegemonisiert, die aus der Standortlogik nicht ausbrechen wollen.

Die meisten Kämpfe der letzten Zeit waren eher defensiver Natur. Es handelte sich um Maßnahmen, die gegen Betriebsschließungen, Entlassungen oder Kürzungen getroffen wurden. Leider mündeten all diese in Teilniederlagen oder in ganz bittere, wie im Falle der Beschäftigten von Opel, die sich dem Korsett der Gewerkschaftsbürokratie nicht entledigen konnten. Offensive Streiks wurden in letzter Zeit allen voran von den sogenannten Spartengewerkschaften durchgeführt: Trotz aller Grenzen, die sich im Korporatismus ausdrücken, der Streiks lediglich als Druckmittel zur Verhandlung auffasst, kommt diesen Kämpfen eine Vorbildfunktion zu, da sie praktisch beweisen, dass selbst „sehr hohe“ Forderungen realistisch sein können, falls man kampfbereit ist. Es geht also in letzter Instanz um das Kräfteverhältnis.

Der fortschrittlichste Kampf der letzten Zeit war der Streik der Beschäftigten von Neupack in Hamburg, wo die oft prekär Beschäftigten nicht nur einen der längsten Streiks der bundesrepublikanischen Geschichte durchführten, sondern vor allem, weil sie durch ihre Unnachgiebigkeit gezeigt haben, was die Standort-Logik für die Lohnabhängigen praktisch bedeutet. Dabei haben Teile der Beschäftigten von Neupack erkannt, dass man nicht nur gegen den eigenen Boss ankämpfen muss, sondern auch gegen die eigenen Gewerkschaftsführungen wie die der IG BCE. Dieser Streik ist lediglich ein Vorbote einer erfreulichen Entwicklung, bei der die Debatte nach der Strategie der Lohnabhängigen letztlich in den Fokus rücken wird, um nicht die Krise der KapitalistInnen zahlen zu müssen.

Die Bundestagswahlen 2013

Und wie antworten die bürgerlichen Parteien auf die Krise? Im Wesentlichen reduziert die CDU alle ökonomischen Fragen auf die Wettbewerbsfähigkeit. Die FDP malt ein irreales Szenario von galoppierender Inflation wie in den 30er Jahren an die Wand. Die SPD versucht gar nicht erst, Antworten zu geben. Die Grünen schlagen einen „Green New Deal“ vor, also eine Art „soziale und ökologische“ Umorientierung im Rahmen des Kapitalismus. Die Linkspartei sieht unser Heil bei Keynes. Für Lohnabhängige und die verarmte Masse wird nach wie vor kein Horizont jenseits der Marktwirtschaft aufgezeigt, und die sozialen Folgen kennen sie zum Teil: Ein-Euro-Jobs, Leiharbeit, Niedriglöhne, massive Steuersenkung für Wohlhabende, Rente mit 67…

Wichtig erscheint uns die Tatsache zu sein, dass wir uns in einem langsamen Erosionsprozess der politischen Säulen des Regimes befinden. Das heißt aber nicht, dass es zu einem abrupten Niedergang von SPD und CDU, wie etwa in Italien, kommen wird. Dennoch ist es unübersehbar, dass die Basis dieser Parteien erodiert, auch wenn die immer wieder auftauchenden Skandale um politische Führungspersonen noch nicht zu einer verallgemeinerten Infragestellung des Regimes und seiner Institutionen geführt haben. Ein wichtiger Hinweis auf dieses Phänomen ist die Entstehung neuer Parteien, welche versuchen, die von den „Volksparteien“ hinterlassenen Lücken zu füllen. RevolutionärInnen müssen Wege finden, um die Krise der bürgerlichen Vermittlungsinstanzen zu nutzen.

Die Bundestagswahlen 2013 werden für keine großen Überraschungen sorgen. Die nächste Bundesregierung, wie sie auch immer aussehen mag, wird neue Maßnahmen ergreifen, um die Kosten der Krise den Lohnabhängigen aufzubürden, um den Expansionskurs Deutschlands in der europäischen Peripherie zu vertiefen.

Revolutionäre Alternative aufbauen

Die kapitalistische Wirtschaftskrise – die tiefste seit der Krise in den 30er Jahren – beweist, dass es utopisch ist, den Kapitalismus zu erhalten. Es ist ein System, das für den Reichtum von Wenigen die Verelendung der Mehrheit in Kauf nimmt; ein System, das für die Gewinne des „1%“ bereit ist, die Umwelt zu zerstören. Heute, mitten in der Vorwahlperiode, können wir nicht aufhören nachzudenken, wie RevolutionärInnen die Aufgabe verwirklichen können, eine politische Alternative der Lohnabhängigen, der Jugend und der verarmten Massen aufzubauen, die zu einer echten politischen Alternative zu den traditionellen Parteien werden kann.

Angesichts der „kulturellen Hegemonie“, die der Reformismus in seinen verschiedenen sozialdemokratischen Varianten in Deutschland ausübt, ist es unerlässlich, den ideologischen Kampf gegen die Auffassung zu führen, man könne dem Kapitalismus ein menschliches, soziales Antlitz geben, was nichts anderes heißt, als dass wir Lohnabhängigen und unsere AusbeuterInnen am selben Strang ziehen – der sich allerdings um unseren Hals legt.

Vor allem muss betont werden, dass eine kollektive Gegenwehr der Lohnabhängigen gegen die Maßnahmen der Unternehmen ohne eine kämpferische Gewerkschaft nicht zu haben ist. Ein Fanal in dieser Hinsicht sind die Lehren aus dem Neupack-Streik. Dementsprechend steht die ArbeiterInnenbewegung heute vor der Aufgabe, die Gewerkschaften von innen heraus zu erneuern und die bürokratische Führung der Gewerkschaften zu entmachten. Kern einer solchen Erneuerung muss die Forderung der Selbstorganisierung von unten sein. Streiks müssen von den Streikenden selbst bestimmt werden und nicht als Druckmittel aufgefasst werden, sondern als Mittel zur politischen Radikalisierung, an deren Ende die Frage nach der Macht steht. Ein erster Schritt auf diesem langen Weg ist, für die Entwicklung einer kämpferischen, antibürokratischen Strömung in den Gewerkschaften einzutreten.

Dabei übersehen wir selbstverständlich nicht die große bestehende Kluft zwischen den objektiven Notwendigkeiten der Lohnabhängigen und den vorhandenen subjektiven Beschränkungen. Somit gewinnen Übergangsforderungen an Aktualität, die diese Kluft überbrücken können. Denn diese sind aufgrund der politisch-ökonomischen Tragweite, die sie beinhalten, notwendige Mittel für die unweigerlichen politisch-ökonomischen Auseinandersetzungen mit dem Kapital und seinen VertreterInnen.

In diesem Sinne denken wir, dass RevolutionärInnen die politische Ruhe in Deutschland nutzen müssen, um die politischen und organisatorischen Weichen für die gesteigerten Auseinandersetzungen zwischen den KapitalistInnen und den Lohnabhängigen zu stellen. Deswegen laden wir alle dazu ein, über die Notwendigkeit einer Bewegung für eine Internationale der Sozialistischen Revolution – die für uns ein Schritt zum Wiederaufbau der Vierten Internationale ist – zu debattieren.

Fußnoten

[1]. Brendan Simms: Cracked heart of the old world.

[2]. The Economist: The reluctant hegemon.

[3]. Institut der deutschen Wirtschaft Köln: Langsam aufwärts.

[4]. Wirtschaftswoche: Die deutsche Wirtschaft im Sog der Euro-Krise.

[5]. Ebd.

[6]. Wirtschaftswoche: Einzelhandel mutiert zur Krisenbranche.

Mehr zum Thema