Der Bahnstreik, das Streikrecht und die Interessen der Gewerkschaftsbürokratie

14.12.2014, Lesezeit 10 Min.
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// Der Streik der LokführerInnen dient der Bourgeoisie als Vorlage für einen historischen Angriff auf unsere Klasse. //

Kein Streik hat in den letzten Jahren mehr Aufsehen erregt als der aktuelle Arbeitskampf der LokführerInnengewerkschaft GDL bei der Deutschen Bahn AG. Dies liegt nicht nur an der infrastrukturellen Relevanz dieses Sektors für das deutsche Kapital. Es hat seine Wurzeln auch in den sich ändernden ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen. Denn die Auseinandersetzung um den GDL-Streik ist ein Ausdruck des aktuellen Kräfteverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit. Sie widerspiegelt einerseits die langfristigen Notwendigkeiten der deutschen Bourgeoisie, um ihre Profitmargen aufrecht zu erhalten; Auf der anderen Seite steht der widersprüchliche Zustand der ArbeiterInnenklasse in der BRD.

Der Druck auf die deutsche Wirtschaft steigt

Vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise hat sich die Produktivität der deutschen Wirtschaft in den letzten Jahren stark verlangsamt. Besonders wirkt sich das auf den Zustand der Infrastruktur aus: So spricht das Institut der deutschen Wirtschaft in einer Studie davon, „dass die Verkehrsinfrastruktur dabei ist, sich von einem Standortvorteil zu einem Standortproblem zu entwickeln“. Angesichts dieser Entwicklung verlangt die herrschende Klasse von ihrer jetzigen Regierung eine „Innovations- und Investitions-Agenda“ mit dem Ziel einer „gut ausgebaute[n] Verkehrsinfrastruktur sowie eine[r] intelligente[n] Vernetzung der Verkehrsträger – Straße, Schiene, Wasserstraße, Luftverkehr“.

Diese soll mittels Steigerung der Staatsverschuldung, mittels Steuererhöhungen bzw. durch Sondersteuerabgaben, also durch eine abermalige Last auf dem Rücken der Lohnabhängigen und verarmten Massen in Deutschland finanziert werden – in anderen Worten, es wird der Boden für eine großangelegte Enteignungsaktion der Massen und eine massive Umverteilung von Staatsgeldern zugunsten imperialistischer Unternehmen bereitet.

Streikrecht und „Standortvorteil“

Die Mission der Verteidigung des „Standortvorteils“ zur Sicherung der deutschen Hegemonie in Europa drückt sich aber nicht nur in Forderungen nach Infrastruktur-Investitionen aus. Gerade in den genannten Transportsektoren haben sich auch in den letzten Jahren immer mehr Spartengewerkschaften etabliert, die mit offensiveren Forderungen und größerer Streikbereitschaft für sich werben – häufig in Bereichen, die für den Kapitalfluss unerlässlich sind. Dass dort kämpferische Belegschaften auszuschalten sind, liegt auf der Hand.

Nicht nur haben ihre Arbeitskämpfe eine massivere Auswirkung auf die Kapitalverwertung als in vielen anderen Bereichen. Sie setzen ihre Forderungen auch mit konfrontativeren Mitteln durch – und senden so Signale an andere Belegschaften, ihre Forderungen mittels Streiks durchzusetzen. Ein Anwachsen der Streikbereitschaft in breiten Sektoren, die jetzt schon embryonal zu beobachten ist, kann sich die deutsche Bourgeoisie gerade jetzt nicht leisten. Deshalb versucht man,an der GDL und ihrem Arbeitskampf um bessere Löhne, aber vor allem um das Recht auf Vertretung ihrer Mitglieder, ein Exempel zu statuieren. Schändlicherweise stimmen die DGB-Gewerkschaften, allen voran die EVG, munter in den Chorus derjenigen ein, die dem GDL-Streik „Unverhältnismäßigkeit“ vorwerfen.

Diese Logik, die letztlich darauf hinausläuft, Streiks immer dann als illegal zu brandmarken, wenn sie effektiv sind, ist Kernstück der jahrzehntelang zelebrierten Sozialpartnerschaft, in die die DGB-Gewerkschaften massiv eingebunden sind. Doch sie wurde in gewissen Sektoren von oben längst aufgekündigt – während die Gewerkschaftsbürokratien der Sozialpartnerschaft hinterher trauern (ein beeindruckendes Beispiel davon war der Neupack-Streik 2013).

Wenn sie es nicht tun, wie im aktuellen GDL-Streik, wird mit reaktionären Gerichtsurteilen wie dem „Ultima Ratio“-Urteil des Bundesarbeitsgerichtes von 1988, welches Streiks nur als allerletztes Mittel des Arbeitskampfes zulässt, argumentiert. Das soll die „Unverhältnismäßigkeit“ genannte Illegalität des Streiks feststellen. Doch der deutschen Bourgeoisie reicht das nicht. Sie drängt anhand des Exempels GDL massiv darauf, die „Tarifeinheit“ gesetzlich durchzusetzen und der GDL faktisch ihr Streikrecht zu entziehen.

Wir können so aktuell beobachten, dass die traditionelle Konfliktlösung der bundesrepublikanischen Geschichte eher früher als später ausgehöhlt werden wird. Denn wenn die Tarifparteien den Boden der historischen Verhandlungsrituale verlassen, dann muss ein Dritter herkommen, um die Parteien zurück zum „Weg der Verhandlungen“ bringen. Dies deutet darauf hin, dass die klassische Interessenregelung zwischen Beschäftigten und Bossen, da wo es um sensible Bereiche des kapitalistischen Produktionszyklus angeht, sich verkompliziert hat. Folge davon ist der Ruf nach dem Staat, nach Gerichten, Sondergesetzen, etc., sowohl seitens der KapitalistInnenverbände, als auch seitens der Gewerkschaftsbürokratie. Beide fordern unisono, jedoch aus anderen Blickwinkeln, die gesetzliche Neuregulierung des Tarifsystems. Dabei wird bereits anvisiert, „für Gewerkschaften in Versorgungsbranchen wie etwa Verkehr und Gesundheit die Regeln für Warnstreiks restriktiver zu handhaben. […] Einem Streik sollte hier zwingend ein Schlichtungsverfahren vorgeschaltet werden. […] Zudem sollten die Streiks mindestens vier Tage vorher angekündigt werden, um unbeteiligte Dritte – also die Passagiere – nicht übermäßig zu belasten.“

Gewerkschaftsbosse kollaborieren mit dem Kapital

Eine Neuverhandlung der Klassenverhältnisse ist das Ziel der Bourgeoisie, der status quo das der DGB-Bürokratie. Ein erfolgreicher Angriff auf die LokführerInnen würde die KapitalistInnenklasse dazu ermutigen, ihre Angriffe und neuen Gesetze auf andere Sektoren der Beschäftigten auszudehnen. Die Bundesregierung gibt ziemlich offen zu, dass es darum geht, Streiks zu erschweren.

Für den DB-Konzern, wie für die gesamte KapitalistInnenklasse Deutschlands, ist die Existenz von Spartengewerkschaften ein Dorn im Auge. Für die Gewerkschaftsspitzen der größeren Gewerkschaften ebenfalls. Deshalb, und aus Sorge vor unkontrollierten Streikbewegungen, kamen am Rande der Koalitionsverhandlungen der jetzigen Regierung PolitikerInnen, GewerkschafterInnen und Wirtschaftsbosse zusammen, um einen Masterplan zur Neuregulierung der Beziehungen zwischen Beschäftigten und KapitalistInnen auszuhandeln.

Das von den Gewerkschaftsbossen ausgehandelte Ergebnis stellt einen Angriff auf elementare ArbeiterInnenrechte dar. Auf der einen Seite wurden den verelendetsten Sektoren der Beschäftigten minimale Konzessionen gewährt, wie der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde sowie die abschlagsfreie Rente nach 45 Versicherungsjahren. Im Gegenzug waren die GewerkschaftsbürokratInnen bereit, das ohnehin sehr restriktive Streikrecht in Deutschland noch weiter aushöhlen zu lassen.

Verfassungsrechtlich ist ein solches Vorhaben zwar nicht zulässig, da es dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit der Beschäftigten zuwiderläuft. Kommt die Regierungskoalition dennoch mit ihrem Vorhaben durch, werden kleineren kämpferischen Gewerkschaften die Hände gebunden und müssten die von den größeren Gewerkschaften ausgehandelten Bedingungen akzeptieren. In anderen Worten, es handelt sich um ein praktisches Verbot von unabhängigen Gewerkschaften und Streiks. Mit dieser arbeiterInnenfeindliche Maßnahme versuchen die Parteien des Kapitals das Streikrecht weiter zu beschneiden, um die langsam steigende Kampfbereitschaft rechtlich zu erdrosseln.

Der Apparat des DGB hat deshalb ein Interesse an der Durchsetzung dieser Forderung, weil die Fragmentierung der Gewerkschaften durch Spartengewerkschaften letztlich nichts anderes als ein Ergebnis der mangelnden Kampfbereitschaft der DGB-Gewerkschaften ist. Diese hat in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten zu einer stetigen Erosion der Tarifbindung, und somit zur Destabilisierung des Tarifsystems insgesamt, geführt. Um die Abkehr von noch mehr ArbeiterInnen vom DGB abzuwehren, will der DGB nun faktisch seine eigene Konkurrenz, die ihm seine eigene mangelnde Kampfbereitschaft wie einen Spiegel vorhält, gesetzlich verbieten lassen.

Nur: Wenn die Tarifautonomie abgeschafft wird, dann wird es zu obligatorischen Schlichtungsverfahren, zur weiteren Verlagerung von Arbeitskämpfen in die Gerichte und zu „unabhängigen“ Prüfungen der „Verhältnismäßigkeit“ von Kämpfen kommen. Wenn Gerichte die Forderungen der Gewerkschaften inhaltlich auf Verhältnismäßigkeit prüfen, dann ist dies nichts anderes als eine indirekte Tarifzensur. Und hinter dem Richter lauert die Polizei als Schlichter. Ein Angriff auf das Tarifrecht heute kann deshalb zutreffend als ein Angriff auf die gesamte Klasse charakterisiert werden.

Die Politik der RevolutionärInnen

Im aktuellen GDL-Streik drückt sich ein Prozess der Entfremdung zwischen GewerkschaftsbürokratInnen aus. Und dies führt dazu, dass sich die Gräben zwischen den verschiedenen Gewerkschaften vertiefen. Dabei entstehen in den Augen der Beschäftigten auf der einen Seite „konzessionsbereite Gewerkschaften“ (DGB, Christliche Gewerkschaften, VMF, DBV u.a.), auf der anderen Seite „aggressive Gewerkschaften“, heute maßgeblich von den Berufsgewerkschaften vertreten, die ihre Existenzberechtigung gegenüber der Basis mittels kämpferischen Aktionen und in Deutschland unüblich hoher Forderungen immer wieder bestätigen müssen (VC, Marburger Bund, GDL, UFO, GdF).

Dabei sind die Führungen der Spartengewerkschaften nicht weniger konzessionsbereit als die Führungen der christlichen Gewerkschaften, jedoch geraten sie aufgrund der reellen Basis, über die sie verfügen, schneller unter Druck. Die besondere Situation, in der sich die Spartengewerkschaften befinden, der gewerkschaftliche Konkurrenzdruck, die Notwendigkeit, konkrete Ergebnisse zu präsentieren, birgt jedoch die Gefahr, dass sich die verschiedenen Gewerkschaften in ihren Forderungen hochschaukeln, dass es mehr Tarifverhandlungen, mehr Arbeitskämpfe gibt. Denn das wichtigste Signal, welches der GDL-Streik für die Beschäftigten in Deutschland aussendet ist, dass sich das Kämpfen lohnt. Allen voran darin liegt die Wichtigkeit der von den Spartengewerkschaften initiierten Auseinandersetzungen. Das ist, was die herrschende Klasse mit allen Mitteln vermeiden will.

Insofern darf die Tatsache, dass es sich um bei den aktuellen Kämpfen um gewöhnlich traditionelle Tarifauseinandersetzungen handelt, dass es sich dabei um angeblich „privilegierten“ Sektoren der ArbeiterInnenklasse handelt, dass die Führung der Spartengewerkschaften nicht minder bürokratisch sind als die Führungen der Mehrheitsgewerkschaften im DGB, nicht zur der falschen Annahme führen, die jetzigen Auseinandersetzung seien nichts anderes als gewöhnliche Routine im Tarifstreit. Denn sollte heute der GDL ein harter Schlag versetzt werden, und sollte die Tarifeinheit beschlossen werden, dann hätte die ArbeiterInnenbewegung in Deutschland eine weitere empfindliche Niederlage erlitten.

Aus dieser Auseinandersetzung kann eine klassenkämpferische Strömung innerhalb der Gewerkschaften hervor gehen. RevolutionärInnen müssen konsequent dafür eintreten. Dazu muss notwendigerweise ein antibürokratisches Programm für die Gewerkschaften gehören. Denn die Existenz der sozialpartnerschaftlichen, klassenkollaborationistischen Führungen – besonders im DGB – ist die größte Gefahr für die Verteidigung des Streikrechts. Darüber hinaus brauchen wir ein Programm der Ausweitung des Streikrechts in der BRD. Ein solches Programm kann es mit der Gewerkschaftsbürokratie nicht geben. Deshalb müssen RevolutionärInnen mit einem Programm der konsequenten Ablehnung jeglicher gesetzlicher Regelungen zum Streikrecht und des Rauswurfs der Gewerkschaftsbürokratie aus den Gewerkschaften den Aufbau klassenkämpferischer Basisgruppen vorantreiben.

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