Das Massaker in Suruç und sein Hintergrund

23.07.2015, Lesezeit 8 Min.
1

// Türkisch – Türkçe //

// Am Montag, den 20. Juli, kamen bei einem Bombenanschlag im nordkurdischen Suruç 32 AktivistInnen der Föderation Sozialistischer Jugendvereine (SGDF) zu Tode, über 100 weitere wurden verletzt. Unsere Solidarität gehört den GenossInnen von SGDF. Was ist der Hintergrund dieses brutalen Attentats? //

Der Kampf der kurdischen „Volksverteidigungseinheiten“ YPG und YPJ gegen die Barbaren des „Islamischen Staats“ (IS) um die Stadt Kobane ist seit langer Zeit weltweit ein wichtiges Thema. Neben zahlreichen Solidaritätskampagnen haben sich viele AktivistInnen aus unterschiedlichen linken Organisationen der Region im Laufe des Widerstands gegen den „IS“ bewaffnet, um die Stadt Kobane zu befreien. Dem heroischen Widerstand der Milizen gelang es, den „IS“ aus der Stadt zurückzudrängen. Doch Kobane liegt in Trümmern, da die schweren Gefechte und die Bombardements von NATO-Flugzeugen die Stadt größtenteils zerstört haben.

Deshalb haben sich UnterstützerInnen von Kobane zusammengeschlossen, um die Stadt wiederaufzubauen. Die SGDF hatte für den 19. bis 24. Juli ebenfalls zur Teilnahme an diesem Projekt aufgerufen. Aus verschiedenen Städten kamen 300 Personen im Kulturzentrum Amara in Suruç zusammen, um gemeinsam nach Kobane zu fahren. Die AktivistInnen hatten sich zunächst zu einer Pressekonferenz versammelt, um die Kampagne bekanntzumachen. Inzwischen steht fest, dass ein Selbstmordattentäter des „IS“ die Explosion auf der Versammlung verursacht hat.

AKP finanziert, IS massakriert!

Die heuchlerischen VertreterInnen des türkischen Mörderstaats erklärten nach dem Massaker ihr Bedauern, aber an ihren Händen klebt Blut: Die Hauptverantwortlichen für diesen Massaker sind die AKP-Regierung und der türkische Nachrichtendienst MIT. Mittels finanzieller und logistischer Unterstützung haben sie den IS-Banditen den Boden bereitet. Im Oktober des vergangenen Jahres haben wir diesen Kurs beschrieben:

Besonders obszön ist die Rolle der Türkei unter Erdogan: Die Türkei hat in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder einen Rückzugsraum für „IS“ geboten, während sie kurdische Milizen und Flüchtlinge an der Überquerung der Grenze hindert und auf ihrem Territorium die Proteste gegen die Kollaboration mit „IS“ gewaltsam angreift. […] Der türkische Staat hat seit dem Beginn des BürgerInnenkrieges in Syrien mehrere oppositionelle Kräfte finanziell und logistisch unterstützt, um den Sturz der Assad-Diktatur zu beschleunigen, die Selbstverwaltungstendenzen der kurdischen Nation zu vernichten und eigene Interessen durchsetzen zu können. Das Scheitern des außenpolitischen Kurses der türkischen Regierung gipfelt in der schandhaften Unterstützung des „IS“.

Die Unterstützung des türkischen Staates für „IS“ ist teils verdeckt, teils offen: Als der „IS“ im Jahr 2014 das türkische Generalkonsulat in Mossul stürmte und 101 Tage lang 49 Menschen als Geiseln hielt, hat die AKP-Regierung gemeinsam mit dem türkischen Nachrichtendienst mit dem „IS“ verhandelt. Schon damals verweigerte die Regierung in Ankara trotz des Drucks der Imperialismen eine konkrete Positionierung gegen den „IS“ und setzte stattdessen den Fokus auf die Bekämpfung von Rojava. Als die Geiselnahme beendet wurde, veröffentlichte die Regierung kein Detail darüber.

Die Stadt Hatay an der türkisch-syrischen Grenze ist im Laufe des BürgerInnenkrieges in Syrien ein Rückzugsort der Banditen geworden, die am 11. Mai 2013 mit Bombenanschlägen im Stadtteil Reyhanli 52 Menschen ermordet und über 100 Menschen verletzt haben. Die AnhängerInnen von „IS“ in Istanbul dürfen währenddessen problemlos weiter Stände abhalten, Vereine gründen und sogar Demonstrationen organisieren.

Im November 2013 und im Januar 2014 warfen die Durchsuchungen von vier Lkws des türkischen Nachrichtendiensts in der südtürkischen Stadt Adana die Frage auf, ob der türkische Staat Waffen an die syrischen Rebellen liefert. Als dieser Skandal in den sozialen Medien turbulente Szenen verursachte, hat die Regierung die fünf Staatsanwälte, die die Durchsuchung angeordnet hatten, entlassen und angeklagt.

In der vergangenen Wahlperiode nutzte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan nach den militärischen Erfolgen der KurdInnen gegen den „IS“ eine aggressive militärische Rhetorik: „Wir werden die Gründung eines neuen Staates an unserer Südgrenze in Nordsyrien nicht erlauben. Wir werden in dieser Hinsicht weiterkämpfen, was auch immer die Kosten sein sollten.“ Diese Hetzpropaganda war nicht nur gegen Rojava gerichtet, sondern auch gegen die neue kurdische Partei HDP, die sich im Aufschwung befindet. Gemeinsam mit dem Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu hat Erdoğan auf Wahlkundgebungen der AKP gezielt gegen die HDP gehetzt. Infolgedessen wurden hunderte Lokale der HDP angegriffen und am 5.Juni fand ein Bombenanschlag des „IS“ auf die HDP-Wahlkundgebung in Diyarbakir statt. Das Massaker in Suruç ist genauso ein Produkt des AKP-Regimes und steht in Verbindung zu vorherigen Massakern.

Bumerang-Effekt

Wie wir bereits in früheren Artikeln über das türkische Regime analysiert haben, hat das Scheitern der Außenpolitik der AKP-Regierung katastrophale Folgen:

Als NATO-Mitglied und strategischer Verbündeter der USA war die Türkei mit dem Beginn des Arabischen Frühlings bestrebt, sein ‚türkisches Modell‘ einer parlamentarischen Demokratie unter Führung einer moderat-islamischen Partei auf Ägypten oder andere Länder der Region auszudehnen. Doch dieses Konzept ist gescheitert und die Türkei hat jetzt vorwiegend feindliche Beziehungen zu Syrien, Ägypten, Irak und Libyen.

Der Hintergrund davon war folgender:

Außenpolitisch befand sich die türkische Bourgeoisie in Syrien und Ägypten in sehr widersprüchlichen Situationen: Sie versuchte die dortigen Oppositionen zu unterstützen, um eigene Märkte zu bilden und mit geopolitischen Verbündeten ihre Regionalmachtbestrebungen voranzutreiben. Doch für den Sturz von Assad fehlte ihr die eigene wirtschaftliche Kraft und die Unterstützung der Imperialismen.

Der türkische Staat sieht den Aufschwung der HDP und das Projekt in Rojava als große Gefahr; und schon seit über 30 Jahren wird die PKK als größte Bedrohung für die nationale Sicherheit bezeichnet. Auch wenn die PKK und die HDP nun einen reformistischen Kurs in der Türkei fahren, stehen die demokratischen und selbstverwalteten Strukturen in Nordsyrien in Widerspruch zur Syrienpolitik der Türkei. Daher besteht seitens des türkischen Staates die Notwendigkeit der Eindämmung und Bekämpfung Rojavas.

Während des Aufschwungs des „arabischen Frühlings“ versuchte die türkische Regierung, ihr „Modell“ eines moderaten Islam mit neoliberaler Prägung auf Länder wie Ägypten auszudehnen. Doch der Erfolg dieses „Exports“ blieb aus, und strategische Verbündete der Türkei wie die ägyptische Muslimbruderschaft wurden von der konterrevolutionären Welle hinweggeschwemmt.
Nun steht der türkische Staat angesichts der ökonomischen und politischen Lage des Regimes unter einem großen Druck. Die pragmatische Unterstützung für den „IS“, um einerseits den Sturz des Assad-Regimes zu beschleunigen, andererseits die demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen in Rojava zu vernichten, war ein Pokerspiel, das mit den Verlusten geendet hat und aktuell die Krise nur noch vertieft. Auch wenn die AKP sich aufgrund der internationalen Kritik an ihrer Politik als „Verbündeter des IS“ sich nun vom „IS“ zu distanzieren versucht, ist dieser schon längst etabliert und hat sich in der Türkei eine materielle Basis geschaffen.

Unsere Aufgaben

Es ist Zeit, das blutige Gesicht des „Diktatfriedens“ zu erkennen: Er impliziert die völlige Kapitulation der kurdischen Bewegung gegenüber dem türkischen Staat. Deshalb kommt es immer wieder zu Konflikten zwischen den Akteuren des „Friedensprozesses“, und der Prozess wird immer wieder einseitig vom türkischen Staat gestoppt. Es kann keinen „ demokratischen Frieden“ mit der türkischen Bourgeoisie und dem türkischen Besatzerstaat geben, da sie die Hauptverantwortung an den Massakern, der nationalen Unterdrückung, der Ausbeutung und der Vertreibung besitzen. Selbst wenn es einen Friedensvertrag geben sollte, wird nur die kurdische Bourgeoisie davon profitieren, während der Großteil der kurdischen Massen weiterhin Unterdrückung und Ausbeutung erleiden werden.

Die IS-Banditen bilden eine große Gefahr für die linken Organisationen, ArbeiterInnen, KurdInnen, AlevitInnen und Frauen. In den letzten Zeiten haben die Attentate dieser Barbaren stark zugenommen. Der türkischen Regierung geht es nicht im Geringsten um die „Sicherheit“ der Massen. So hat die türkische Polizei selbst auf den Protestaktionen anlässlich des Massakers in Suruç in mehreren Städten die Protestierenden massiv angegriffen. Deshalb müssen in dieser Situation Selbstverteidigungskomitees in Betrieben und Straßen aufgebaut werden, welche die Bevölkerung nicht nur gegen die IS-Banditen, sondern auch gegen die Repressionen des türkischen Staates verteidigen.

Wir müssen in Deutschland und Europa für die Aufhebung des PKK-Verbots, welches die KurdInnen kriminalisiert und den Widerstand schwächt, für die Freilassung aller politischen Gefangenen, für die Anerkennung aller Geflüchteten und für den Stopp der Waffenexporte kämpfen. Dafür müssen die Gewerkschaften und die linken Organisationen in Form von Kampagnen und Demonstrationen ihre Solidarität mit den kurdischen Massen zeigen.

Mehr zum Thema