Chile: Ohne Vernunft und mit Gewalt*

30.11.2011, Lesezeit 10 Min.
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Die Bildungsproteste sind nach wie vor im Zentrum der politischen Debatte, obwohl die studentischen Bürokratien den Kampf von der Straße ins Parlament zu tragen versuchen. Dabei ziehen alle am selben Strang: sowohl die gemäßigten Bürokratien der JJCC [“Kommunistische Jugend“, Jugendorganisation der stalinistischen Kommunistischn Partei Chiles], der autonomen Gruppierungen und der Concertación[1]-nahen Gruppen, als auch linke Bürokratien der „populären Kollektive“ in der CONFECH[2]. Dort dreht sich die Show um die Frage nach mehr oder weniger Mitteln für die Bildung, angeführt von den rechten Parteien sowie von der Concertación, also von den politischen Verantwortlichen der Durchsetzung der Bildung nach marktwirtschaftlichen Kriterien. Die KP Chiles macht bei dieser Bildungsposse mit. Der Kampf wird in die parlamentarischen Gewässer geführt, dennoch ist der Druck immens. Die Regierung und die Rechten antworten mit Gewalt. Das Erbe Pinochets erweist sich als ein Damm, der jegliche Veränderungen verhindert. Nichts ist gelöst worden, und die Aufgabe der Stunde besteht darin, die Kräfte derer zusammenzuführen, die den Kampf bis zum Ende führen wollten – und zwar bis alles erreicht worden ist.

Schläge auf den Tisch und Ablenkungsmanöver

Die Bildungspolitik der Concertación und der KP, unterstützt von der gemäßigten studentischen Bürokratie, die zur Druckausübung auf die ParlamentarierInnen aufrief, ändert nichts Grundlegendes. Sie feilt ein wenig an den irritierendsten Aspekten der Bildung nach marktwirtschaftlichen Kriterien.

Außerdem beschränkt sie sich darauf, etwas mehr Mittel für die Bildung bereitzustellen, während die restlichen Forderungen der Bewegung in ein Übereinkunftsprotokoll aufgenommen werden sollen, das nicht das Papier wert sein wird, auf dem es gedruckt wird. Für die Concertación und die KP geht es lediglich um die Frage nach mehr oder weniger Mitteln für die Bildung. Deshalb fordern sie, den von der Regierung angekündigten Bildungshaushalt in Höhe von 780 Millionen Dollar mit einer Milliarde Dollar aufzustocken. Von der Forderung nach kostenloser Bildung für alle ist keine Rede mehr. Lediglich die Einführung eines Stipendien- und Hilfesystems für 70% der Studierenden und SchülerInnen. Die Regierung bietet eine Mittelerhöhung von 60% an, die jedoch graduell implementiert werden soll. Von der Forderung nach Ende des Bildungssystems, das nach marktwirtschaftlichen Kriterien funktioniert, ist noch weniger zu hören. 93 Prozent des Haushaltes für Bildung geht nach dem jetzigen Modell an private BildungsinvestorInnen. Es handelt sich also um einen Haushalt zur Unterstützung der Privatisierungen.

Die Regierung antwortet mit Machtdemonstrationen. Sie beruft sich dabei auf ihre Zuständigkeit, die besagt, dass nur die Regierung und nicht die ParlamentarierInnen über staatliche Mittel entscheiden kann. Ein autoritäres politisches Regime, Erbe der Diktatur, die die Concertación aufrecht hielt. Die KP und die studentischen Bürokratien haben den Kampf in das binominale[3] und autoritäre Parlament verlagert. Es ist nicht der einzige Schlag auf den Tisch. Die Regierung verstärkt ihren Diskurs der „öffentlichen Ordnung“, d.h., sie versucht mit allen Mitteln, jegliche Demonstrationen, und somit generell das Recht, gegen die Niederträchtigkeit der Demokratie von Pinochet und Concertación zu protestieren, zu unterbinden.

So hat Justizminister Teodoro Ribera von den Gerichten verlangt, die kämpfenden Jugendlichen auf den Straßen, in den Besetzungen, in den Streiks, mit Gefängnisstrafen zu verurteilen. Das Gesetz, das kein Freund der kämpferischen Sektoren ist, hat die Erwartungen erfüllt: Mehr als 90 Prozent der Verhaftungen werden juristisch bestraft. Anschließend und mit dem selben Ziel forderte der Innenminister Rodrigo Hinzpeter das Innenministerium auf, repressive Maßnahmen gegen sie zu ergreifen. Dabei handelt es sich um eine weitere Institution, die weit entfernt davon ist, Freundin der kämpferischen Sektoren zu sein. So hat sie die Anträge zur Inhaftierung der AktivistInnen der Montage „Caso bombas“[4] („Bombenaffäre“) gestellt. Zudem müssen wir die infame Ehrung des Folterers Krasnoff, die vom Bürgermeister von Las Condes, Labbé von der UDI, veranstaltet wurde, erdulden. Eine wahre Provokation.

Der herbeigerufene Stillstand

Diese Schläge auf dem Tisch zeigen, dass sie besorgt sind über die Zukunft. Nichts wurde gelöst, und alles deutet auf ein Wiederaufflammen der Kämpfe hin. Sie bereiten sich für diesen Zeitpunkt vor. Ihr Handeln beweist, dass der Kampf immer noch Spuren hinterlässt, und deshalb antworten sie mit Gewalt. Der Kampf beweist außerdem noch etwas: Die Schwäche der Regierung, der Rechten, der Concertación, des Parlamentes. Die von Labbe veranstaltete infame Ehrung seines Folterer-Freundes ist ein Schlag ins Gesicht des Präsidenten Sebastián Piñera, ein rechter Haken: Die Abgeordneten der UDI[5] sind unzufrieden mit dem von der Regierung vorgelegten Haushalt. Die rechtsliberale Renovación Nacional (RN)[6] ist praktisch geteilt: Abtrünnige Sektoren werden gar nicht erst in die Parteiinstanzen hineingelassen, und so manche kündigen bereits an, mit der Partei brechen zu wollen. Gleichzeitig wird die Gründung einer neuen rechten liberalen Partei angekündigt. So ändern weder die Schläge auf den Tisch noch die parlamentarischen Ablenkungsmanöver des Konfliktes etwas. Es kündigt sich lediglich ein Stillstand an, ein scheinbarer Frieden, der von allen Kräften benutzt wird, um sich für die nächsten Schlachten vorzubereiten. Die Regierung zeigt bereits, wie sie sich vorbereiten: Durch mehr Autoritarismus und mehr Repression. Die Concertación tut es ebenfalls: Sie versucht sich als Freund des Volkes zu profilieren, indem sie sich als Brücke zwischen der Regierung und den Studierenden und SchülerInnen anbietet.

Und was machen die SchülerInnen und Studierenden?

CONFECH von Chillán: lediglich ein Gruß an die Fahne

Im Plenum von Chillán[7] lehnte die CONFECH sowohl die Angebote der Regierung als auch die der Concertación ab. Nun versucht der gemäßigte Flügel der studentischen Bürokratie, diesen Entschluss zu relativieren. Für den studentischen Anführer Giorgio Jackson (Pro Concertación) war dies ein sehr harter politischer Schlag. Die von der CONFECH radikal klingenden Pressemitteilungen kamen aus dem linken Flügel der studentischen Bürokratie. Sie sind jedoch leeres Gerede, denn sie selbst haben vor einigen Wochen dazu aufgerufen, die ParlamentarierInnen unter Druck zu setzen. Die Plena der CONFECH sind weiterhin bürokratisch, sie werden hinter geschlossen Türen veranstaltet. Jetzt haben sie wieder einmal die SchülerInnen als wichtigen Akteur der Bewegung entdeckt. Aber wenn sich die CONFECH und die CONES[8] treffen, dann handelt es sich ebenfalls um eine bürokratische Einheitsinstanz, die Entscheidungen von oben nach unten weiterleitet.

Außerdem haben die VertreterInnen der CONES bereits gesagt, dass sie die Verhandlungen mit den ParlamentarierInnen nicht ablehnen. Die von ihnen gemachten Streikaufrufe müssen wir jedoch ausnutzen und selbst vorantreiben, in jeder Schule und Fakultät, denn für die Bürokratie sind solche Aufrufe nur als Druckmittel im Rahmen von Verhandlungen gedacht.

Deshalb verlieren sie kein Wort über die Universitäten (UCN, UA), Fakultäten (philosophischen Fakultät der Universität von Chile) und Schulen (wie die A-90 von San Miguel), die sich immer noch widersetzen und den Entschluss, den Unterricht nicht wieder aufzunehmen, ratifiziert haben. Es wäre möglich gewesen, die Forderungen von SchülerInnen und Studierenden durchzusetzen, indem Streiks und Besetzungen bis zur Erfüllung der Forderungen aufrechterhalten worden wären. Aber mit solchen Führungen zu siegen, erweist sich als schlichtweg unmöglich.

Die Avantgarde umgruppieren

Die Schwäche der Regierung, der Rechten, der Concertación, des Parlamentes, wird durch Schläge auf den Tisch und Ablenkungsmanöver mit ungewissem Ausgang verschleiert. Die Regierung weiß, dass sie sich auch auf die Dienste der studentischen Bürokratien verlassen kann, die heute dazu aufrufen, den Unterricht wieder aufzunehmen und dafür, den Kampf ins Parlament zu tragen, sowie Vertrauen in die Concertación – jene falschen FreundInnen der Massen – zu haben. Dem Pinochet-Erbe wurde jedoch ein harter Schlag versetzt. Seit sieben Monaten dreht sich die politische Debatte und alles um den Kampf der Studierenden und SchülerInnen. Über den Jahresetat wird nicht entschieden, weil die Frage der Bildung noch offen steht.

Wir müssen den Kampf vertiefen, bis wir sie zu Fall gebracht haben. Dafür müssen wir entscheidende Schritte unternehmen, um die Avantgarde, die Willens war, bis zum Ende zu kämpfen, zu gruppieren. Und dann müssen wir den Kampf wieder aufnehmen, bis alle Forderungen durchgesetzt sind. Deshalb und dafür entsteht nun die „Kämpferische und Revolutionäre Gruppierung“, die bei einem ersten nationalen Treffen vom 19. und 20. November entstanden ist und sich aus Genossinnen und Genossen der Universitäten, Gymnasien, technischen Schulen, aus verschiedenen Städten von Norden nach Süden sich zusammensetzt: Aus Arica, Antofagasta, Valparaíso, Santiago, Temuco.

Dabei handelt es sich um jene Jugendlichen, die immer noch bereit sind, den Kampf fortzuführen, die immer noch Widerstand leisten. Sie nehmen den Unterricht nicht wieder auf, dort, wo bereits der Unterricht aufgenommen wurde. Sie bereiten sich dagegen für die zukünftigen Schlachten vor, die auf den Straßen geschlagen werden, die in den Gremien wie studentischen Föderationen und SchülerInneninstanzen gegen die Bürokratie geschlagen werden müssen, in den Bildungseinrichtungen, an den Arbeitsplätzen. Dieser Kampf ist Teil der antikapitalistischen Kämpfe der Jugend und ArbeiterInnen in Griechenland, im Spanischen Staat, in Ägypten… Dieser Kampf wird in der CONFECH nun von der Liste „Mach den Weg frei für den Kampf“ geschlagen.

Wir wollen grundlegende Veränderungen, um endlich das ganze Erbe Pinochets auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen. Dafür müssen wir die Last der studentischen Bürokratie, sowohl der gemäßigten als auch der linken Sektoren, ablegen, um die nötigen Vorbereitungen für die kommenden Kämpfe zu treffen. Die TrotzkistInnen der Partei der Revolutionären ArbeiterInnen-Klasse gegen Klasse (PTR-CcC) begleiten und helfen, die nötigen Instanzen aufzubauen, um den Kampf dieser Genossen und Genossinnen fortzuführen, auf dem Weg zum Aufbau einer Partei der linken und sozialistischen ArbeiterInnen, einer revolutionären Partei im Kampf für eine ArbeiterInnenrepublik basierend auf Organen direkter Demokratie, um die Ausbeutung und Unterdrückung zu beenden.

von der PTR-CcC (Partei revolutionärer ArbeiterInnen – Klasse gegen Klasse, chilenische Sektion der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale). Ursprünglich am 22.11.2011 hier auf Spanisch erschienen.

Fußnoten

* Beim Titel des Artikels handelt es sich um eine Anspielung auf das chilenische Wappen, wo steht: „Durch Vernunft oder Gewalt“.

[1] Concertación de Partidos por la Democracia, kurz Concertación (Koalition der Parteien für die Demokratie) ist ein Bündnis von Mitte-Links-Parteien in Chile. Es ist aus dem Oppositionsbündnis Concertación de Partidos por el No hervorgegangen, das beim Plebiszit von 1989 für freie Wahlen eintrat (und gegen eine Verlängerung der Diktatur, deshalb „No“). Seit dem Ende der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet kamen mit Patricio Aylwin, Eduardo Frei, Ricardo Lagos und Michelle Bachelet bis zur Präsidentschaft von Sebastián Piñera alle chilenischen PräsidentInnen aus dem Lager der Concertación. Quelle Wikipedia.

[2] Dachverband der chilenischen Studierenden.

[3] Nach dem binominalen Wahlsystem werden jeweils zwei Kandidaten in Wahlkreisen gewählt (Zweipersonenwahlkreis) und nicht nach dem Verhältnis der Stimmen bestimmt, die eine Partei landesweit bekommt. Dabei werden in jedem Wahlkreis zwei Kandidaten gewählt (daher auch der Name bi-nominal). Diese beiden Sitze werden nach dem Verhältnis der Stimmen verteilt. Meistens erhält die Partei oder Wahlverbindung mit den meisten Stimmen in einem Wahlkreis einen Abgeordneten aus diesem Wahlkreis und die mit den zweitmeisten Stimmen den zweiten. Alle anderen Parteien gehen leer aus – die für sie abgegebenen Stimmen haben keinerlei Einfluss. Damit beide Sitze auf die siegreiche Liste entfallen, muss diese mehr als doppelt so viele Stimmen wie die zweitstärkste Liste auf sich vereinen. Dieses Verfahren begünstigt auf diese Weise ein Zweiparteiensystem gemäßigter Gruppierungen nach amerikanischem Vorbild, verhindert aber insbesondere die parlamentarische Repräsentation kleiner Listen. Quelle: Wikipedia.

[4] Dabei wurden mehrere anarchistische Jugendliche beschuldigt, an einer terroristischen Verschwörung und dem Anbringen von Sprengstoff teilgenommen zu haben. Inzwischen wurden die 14 Verhafteten aus Zweifeln an der Anklage von der Staatsanwaltschaft unter Hausarrest gestellt.

[5] Die Unión Demócrata Independiente (Unabhängige Demokratische Union, UDI) ist eine rechte politische Partei, die während der Militärdiktatur von Augusto Pinochet 1983 gegründet wurde. Sie ist am rechten Bündnis „Alianza por Chile“ (gemeinsam mit RN) beteiligt.

[6] Die Renovación Nacional (deutsch: Nationale Erneuerung) ist eine rechte Partei, die 1987 gegründet wurde. Sie ist am rechtsgerichteten Bündnis „Alianza por Chile“ (gemeinsam mit der UDI) beteiligt und seit März 2010 stellt sie mit Sebastián Piñera den chilenischen Präsidenten.

[7] Eine kleine Stadt etwa 500km südlich von der Hauptstadt Santiago gelegen.

[8] Dachverband der SchülerInnen.

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