100-Jähriges Jubiläum: die Zimmerwalder Konferenz

12.09.2015, Lesezeit 10 Min.
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// Vom 5.-8. September 1915 trafen sich in Zimmerwald, einem kleinen Ort in der Nähe von Bern, 40 Delegierte aus elf Ländern. Wer kam zu diesem ungewöhnlichen Treffen in einer ländlichen Region in der neutralen Schweiz, während der Krieg Europa und Teile der Welt zerstörte? //

Es waren SozialistInnen aus aller Welt – die wenigen, die nicht ihre jeweiligen imperialistischen Staaten in ihrem Kriege gegen die anderen Staaten unterstützten. Die Anwesenden scherzten, dass es 50 Jahre, nachdem Marx die Erste Internationale gegründet hatte, möglich war, die InternationalistInnen aus aller Welt „in nur vier Wagen unterzubringen.“ Der Witz konnte den bitteren Beigeschmack der Situation nicht überdecken. Und trotz allem wurde dort, „gegen die Geschichte mit den Fäusten kämpfend“, der erste Grundstein für eine neue Internationale gelegt, die kaum zwei Jahre später die großen ArbeiterInnenrevolutionen anführen würde, die die imperialistische Schlächterei beendeten.

Der gerissene Faden der historischen Kontinuität

Vor einem Jahr gedachten wir des hundertsten Jubiläums des Beginns einer der größten Katastrophen der modernen Zeit, dem Ersten Weltkrieg. Dieser Krieg führte zum Zerfall der Zweiten Internationale. Sie war 1889 von Friedrich Engels mit dem Ziel gegründet worden, starke sozialistische Parteien aufzubauen, die der Prognose entgegentreten sollten, dass die Entwicklung des Kapitalismus zu einer Katastrophe und einem Weltkrieg führen werde, welche die RevolutionärInnen zur Überwindung des Kapitalismus selbst und zum Aufbau des Sozialismus nutzen sollten.

Aber diese Organisationen scheiterten im entscheidenden Augenblick und verrieten ihre eigenen Prinzipien. Der Faden der Kontinuität mit dem revolutionären Sozialismus von Marx und Engels wurde zertrennt. Die offizielle Sozialistische Internationale war gestorben. Zwar hatte ihr niemand offiziell die Auflösung bescheinigt. Aber wie hätte sie weiter existieren können, wie hätten sich ihre AnführerInnen treffen können, um den Kampf gegen den weltweiten Kapitalismus zu planen, wenn jede einzelne sozialistische Partei es unterstützte, dass die ArbeiterInnen jedes Landes sich in den Schützengräben gegenseitig im Dienste der imperialistischen Interessen der verfeindeten Lager massakrierten?

Unversöhnliche Abrechnung

In dieser schrecklichen Situation riefen die sozialistischen Parteien der Schweiz und Italiens diejenigen SozialistInnen, die sich der Auflösung der Internationale und dem Krieg entgegenstellten, dazu auf, in Zimmerwald einen Aktionsplan zu diskutieren. Karl Liebknecht schrieb aus dem Gefängnis in Deutschland einen emotionsgeladenen Gruß an die Konferenz:

„Liebe Genossen!

Ich bin vom Militarismus gefangen, gefesselt. So kann ich nicht zu Euch kommen. Mein Herz, mein Kopf, meine ganze Seele ist dennoch bei Euch.

Ihr habt zwei ernste Aufgaben. Eine harte der rauhen Pflicht und eine heilige der enthusiastischen Begeisterung und Hoffnung.

Abrechnung, unerbittliche Abrechnung mit den Fahnenflüchtigen und Überläufern der Internationale in Deutschland, England, Frankreich und anderwärts.

Gegenseitige Verständigung, Ermutigung, Anfeuerung der Fahnentreuen, die entschlossen sind, keinen Fußbreit vor dem internationalen Imperialismus zu weichen, mögen sie auch als Opfer fallen. Und Ordnung in den Reihen derer zu schaffen, die auszuharren entschlossen sind, auszuharren und zu kämpfen – den Fuß fest am Male des internationalen Sozialismus.

Die Prinzipien unserer Stellung zum Weltkrieg, als Spezialfall der Prinzipien unsrer Stellung zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung, gilt’s kurz zu klären: kurz – so hoffe ich! Denn hier sind wir alle, seid ihr alle einig, müssen wir uns einig sein.

Die taktischen Folgerungen aus diesen Prinzipien gilt’s vor allem zu ziehen – rücksichtslos, für alle Länder!

Burgkrieg, nicht Burgfrieden!“

Drei verschiedene Visionen

Nichtsdestotrotz gab es unter den Anwesenden drei verschiedene Positionen. Auf der Konferenz entwickelte sich die Diskussion zwischen einem rechten Flügel – vertreten durch Ledebour und Hoffmann aus Deutschland und Martow aus Russland –, die sich dem Bruch mit der rechten Mehrheit ihrer Parteiführungen verweigerten, und dem linken Flügel – vertreten durch Lenin –, sowie Sektoren, die sich in einer Zwischenposition befanden, unter ihnen Trotzki und die SpartakistInnen. Trotz dieser Grenzen hielt Lenin Zimmerwald für einen wichtigen Schritt.

Das historische „Zimmerwalder Manifest“, geschrieben von Trotzki, versuchte diese drei Positionen zu synthetisieren. Es erklärte: „Der Krieg, der dieses Chaos erzeugte, ist die Folge des Imperialismus, des Strebens der kapitalistischen Klassen jeder Nation, ihre Profitgier durch die Ausbeutung der menschlichen Arbeit und der Naturschätze des ganzen Erdballs zu nähren. […] In Tat und Wahrheit begraben sie auf den Stätten der Verwüstung die Freiheit des eigenen Volkes mitsamt der Unabhängigkeit anderer Nationen.“ Das Manifest bezog sich auch auf das politische Erbe der Resolutionen der Internationale gegen den Militarismus und rief die ProletarierInnen aller Länder dazu auf, sich zu vereinigen und gegen den Krieg zu kämpfen. Nichtsdestotrotz war das größte Defizit des Manifests, keine konkrete Politik zu entwerfen, wie dies durchgesetzt werden könnte. Genauso wenig verurteilte es offen den Verrat von Seiten der Führung der Zweiten Internationale.

Die russischen Bolschewiki bildeten den linken Flügel dieser Konferenz und waren sich dieser beiden Probleme am meisten bewusst. Der Antrag Lenins, die Zerschlagung der kapitalistischen Regierungen und die Umwandlung des imperialistischen Kriegs in einen BürgerInnenkrieg in das Manifest aufzunehmen, wurde aber abgelehnt.

Der Resolutionsvorschlag, geschrieben von Karl Radek, des linken Flügels von Zimmerwald, den Lenin anführte, erklärte: „Dieser Kampf erfordert die Ablehnung der Kriegskredite, den Rücktritt [der Sozialisten] aus den Regierungsministerien und die Denunzierung des kapitalistischen und antisozialistischen Charakters des Krieges – im parlamentarischen Rahmen, auf den Seiten der legalen und, wenn erforderlich, illegalen Publikationen, und den offenen Kampf gegen den Sozialpatriotismus. Jede Massenbewegung, die aus den Folgen des Kriegs entsteht (gegen die Verarmung, als Reaktion auf die Verluste der Armee, etc.) muss genutzt werden, um Straßendemonstrationen gegen die Regierungen, sozialistische Propaganda internationaler Solidarität in den Schützengräben, wirtschaftliche Streiks zu organisieren und zu versuchen, diese Streiks, wenn die Bedingungen günstig sind, in politische Kämpfe zu verwandeln.“

Die restlichen TeilnehmerInnen der Konferenz hatten eine schwankende Haltung zu diesen Positionen.

Worüber diskutierten Lenin und Trotzki?

Damals gingen Lenin und Trotzki, die zwei Jahre später die wichtigsten Anführer der Russischen Revolution sein würden, noch getrennte Wege. Während Lenin in dieser Periode die Bolschewiki anführte, blieb Trotzki innerhalb der russischen sozialistischen Bewegung außerhalb der Bolschewiki und der Menschewiki, auch wenn seine Positionen den ersteren näher waren. In groben Zügen war Trotzki der Ansicht, dass die zentrale Losung der Agitation der Kampf für den Frieden war. Für Lenin war das ein Zugeständnis an den zentristischen Sektor von Kautsky und forderte: „Die Umwandlung des gegenwärtigen imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg ist die einzig richtige proletarische Lösung, wie sie aus der Erfahrung der Kommune hervorgeht, wie sie in der Basler Resolution niedergelegt ist.“ Die KautskyanerInnen forderten den Frieden im Rahmen des Kapitalismus. Im Gegensatz dazu war für Trotzki diejenige Losung, die ein Friedensprogramm krönen sollte, die Forderung nach den Vereinigten Staaten von Europa. Dies war verbunden mit dem revolutionären Kampf für den Frieden. Die ArbeiterInnenklassen der kriegführenden Länder müssten die Macht in ihren Staaten übernehmen und die ArbeiterInnenregierungen über die Grenzen hinweg vereinigen. Nur so sei ein vereinigtes Europa ohne weitere Kriege tatsächlich möglich. Gleichzeitig wäre dies ein großer Antrieb für die Weltrevolution. Lenin sah hierin wieder den Einfluss Kautskys. Außerdem meinte der bolschewistische Anführer, dass die ökonomischen Voraussetzungen dafür nicht gegeben seien, aufgrund der großen Unterschiede in der Entwicklung der verschiedenen europäischen Länder.

Die Losung des „Defätismus“

In Bezug auf diesen letzten Punkt basierten die Unterschiede zwischen Lenin und Trotzki klar auf zwei unterschiedlichen Ausgangspunkte in der Analyse des Kapitalismus. Trotzki ging davon aus, dass der Kapitalismus eine weltweite Realität sei, die die verschiedenen Nationalstaaten bestimme (was die Grundlage seiner Theorie der permanenten Revolution ist), und so die alte Unterscheidung zwischen für den Sozialismus reifen und unreifen Ländern obsolet machen würde, wie sie traditionell von der Zweiten Internationale vertreten wurde, und der auch Lenin noch anhing. Letzterer argumentierte darüber hinaus: „Aber für uns russische Sozialdemokraten kann es keinem Zweifel unterliegen, daß vom Standpunkt der Arbeiterklasse und der werktätigen Massen aller Völker Rußlands die Niederlage der Zarenmonarchie, der reaktionärsten und barbarischsten Regierung, die weitaus die meisten Nationen und größten Bevölkerungsmassen Europas und Asiens unterjocht hat, das kleinere Übel wäre.“

„Zweifellos hat die von einem Teil der englischen, deutschen und russischen Sozialisten getriebene ernsthafte Agitation gegen den Krieg die ‚militärische Kampfkraft‘ der betreffenden Regierungen ‚geschwächt‘, aber diese Agitation war ein Verdienst dieser Sozialisten. Die Sozialisten müssen den Massen klarmachen, daß es für sie keine Rettung gibt außer in der revolutionären Niederwerfung der ‚eigenen‘ Regierungen und daß die Schwierigkeiten dieser Regierungen im gegenwärtigen Krieg eben für diesen Zweck ausgenutzt werden müssen.“ Diese Position wurde als „Defätismus“ bekannt. Trotzki befürchtete, dass sich dies mechanisch in eine Politik des systematischen Boykotts der Armee übersetzen würde, um die Niederlage des eigenen Landes zu erreichen, mit dem Ziel die Revolution zu provozieren. Auch wenn das in diesem Fall passieren könnte, war es für Trotzki sehr gut möglich, dass eine militärische Niederlage im Gegenteil eine verfrühte und schwache Revolution auslösen könnte, die schnell niedergeschlagen werden könnte. Trotzkis Fehler war, nicht zu verstehen, dass Lenins Forderung darin bestand, den Klassenkampf während des Krieges nicht zurückzuhalten, nicht einmal angesichts der Möglichkeit, dass in der Konsequenz die eigene imperialistische Regierung durch verfeindete Staaten besiegt werden würde.

Mit der Russischen Revolution und der Gründung der Dritten oder Kommunistischen Internationale verschwanden diese Differenzen zwischen Lenin und Trotzki. Die Positionen des linken Flügels der Zimmerwalder Konferenz waren der Embryo dieser neuen Internationale.

Zimmerwald heute und ein militanter Internationalismus

Heute sind wir wieder ZeugInnen der Entstehung neuer angeblich „linksradikaler“ Parteien wie Syriza in Griechenland, die letztlich an die Regierung kommen, weil die Massen die Illusion haben, dass sie ein radikales Programm des Bruchs mit dem europäischen Imperialismus durchsetzen könnten. Aber diese Illusionen wurden in wenigen Monaten entlarvt. Parteien wie Syriza sind „modernisierte“ Versionen der alten reformistischen Sozialdemokratie, die sich im Ersten Weltkrieg ruinierte und die von der Bourgeoisie genutzt wird, um die Massen zu täuschen und zu entmutigen. Am Horizont der nächsten Jahre sind schon die Gewitterwolken schärferer Konflikte zu sehen: Das gegenwärtige Drama in Griechenland und die Brutalität der europäischen Asylpolitik und die Stärkung fremdenfeindlicher Tendenzen machen den Wiederaufbau einer revolutionären Internationalen notwendig. In diesem Sinn muss die Erinnerung an die Zimmerwalder Konferenz vor hundert Jahren heute zum Aufbau einer internationalen marxistischen Strömung beitragen, die gegen den Strom schwimmen kann, in der ArbeiterInnenklasse verankert ist und die Versuchung ablehnt, sich in „linke“ VerwalterInnen der Sparpläne des Imperialismus zu verwandeln. Die politischen Organisationen, die heute keine Abrechnung mit der Idee machen, dass ein Bruch mit dem Imperialismus oder ein neuer „friedlicher Weg zum Sozialismus“ einfach durch die Verwaltung des kapitalistischen Staates mit einer „linken Regierung“ möglich ist, laufen Gefahr, die desaströse Erfahrung von Syriza einfach nur zu wiederholen.

Übersetzung aus dem Spanischen: Stefan Schneider

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